STEFAN RINCK
DER ALPEN-CLAN KEHRT ZURÜCK
27.11.2025 – 19.04.2026
Rotundenprojekt 2025 – Part I
Zweifellos sind die Skulpturen von Stefan Rinck keine Leichtgewichte. Und doch erscheinen sie wie federleichte Phantasiespiele, in denen der Bildhauer Facetten der High- und Low-Kultur mit Epochen der Kultur- und Kunstgeschichte wagemutig verwirbelt. Ihre widersprüchliche Natur wirkt bezwingend, da sie weniger als steinschwere Monumente denn mehr als freigeistige Capriccios Eindruck machen. Es ist diese Selbstverständlichkeit, die einnehmend auf uns wirkt. Allesamt sind es künstlerische Parameter, die Stefan Rinck in seinem Werk verfolgt. Mit Fingerspitzengefühl justiert er sie von Skulptur zu Skulptur fortwährend neu aus. Vice versa stimulieren sie seine künstlerische Auseinandersetzung mit der Welt.
Unter seinen Händen wachsen sich rohe Gesteinsbrocken zu unbekannten sublimen Wesen aus. Schon bei der Vorauswahl der jeweiligen Steinart denkt er die für das Material spezifischen Bearbeitungsmethoden mit, um der allure der zukünftigen Skulptur gerecht zu werden. Mit der Kennerschaft des Steinmetzes kann sich sein Blick sprunghaft vom eher spröden, lehmfarbenen Elbsandstein hin zum harten und farbintensiven blauen Macauba- oder grünen Atlantis-Quarzit wenden, um unvermutet einen Block schneeweißen Statuario-Marmor, das Nonplusultra jedes klassischen Bildhauers, für seine nächste folie ins Auge zu fassen. Die Material-Melange seines Skulpturenparks beschwört ein phantastisches Panoptikum flirrender Lebensgeister herauf, denen er Leben einhaucht. Mit ihrem vielfach überdrehten Habitus erinnern sie an Picassos extraterrestrische Gaukler der blauen und rosa Periode. Wie sie bevölkern Rincks Statuen unsere Lebenswelt, ohne unsere Realität zu teilen. Das macht sie für uns so anziehend. Unvermittelt werden wir berührt von der Fremde ihres märchenhaften Habitats, das aus der Nähe, aber mit sicherem Abstand betrachtet, unserer menschlichen Natur mit ihren Sehnsüchten und Ängsten nicht unähnlich ist.
Stefan Rinck’s sculptures certainly cannot be said to lack weight, but they nonetheless come across as feathery flights of fancy in which aspects of high and low culture are boldly swirled together with diverse cultural and art-historical periods. This paradox is compelling, the sculptures deriving their impact less from their heavy monumentality than from their free-thinking capriciousness, as they win us over with their nonchalant self-evidence. With finely tuned instincts, Rinck constantly readjusts the parameters of his art, from sculpture to sculpture, and this process in turn informs his approach to the world as an artist.
In his hands, rough rocks grow into unknown sublime creatures. When choosing which type of stone to use, he bears in mind the specific methods of working each material, in order to do justice to the allure of the future sculpture. With the stonemason’s expertise, his eye may jump from a more brittle, clay-colored Elbe sandstone to the hard brightness of a blue Macaubas or green Atlantis quartzite, before unexpectedly considering a block of snow-white statuary marble, the nonplus ultra of classical sculpture, for his next folie. The material mix of his sculpture park summons a motley crew of shimmering spirits into which he breathes life. With their often overdrawn features, they recall Picasso’s extraterrestrial acrobats of the blue and rose periods. Like them, Rinck’s statues inhabit our world without sharing our reality. Which is what makes them so appealing. We are touched by the strangeness of their fairy-tale habitat which, viewed close up while maintaining a safe distance, is not dissimilar to our own human nature with all its desires and anxieties.
Damit zieht uns der vielbelesene Künstler auch tief in die Kultur- und Kunstgeschichte hinein, die sich in seinem Werk ablesen lässt, und teilt seinen Wissensschatz mit uns. Beispielsweise ist seine Begeisterung für die romanische und gotische Kathedralskulptur unübersehbar. Spaßhalber könnte man meinen, dass er in seinen Skulpturen ihren Abwehrzauber für die Gegenwart aktiviert. Vielfach sind es epochale Meilensteine, die er zitiert und in eine neue, zeitgemäße Form transferiert, um nicht zuletzt mit seinem Werk auf die Gegenwart zu reagieren.
Die aktuelle Publikation erscheint anlässlich von Stefan Rincks Einzelausstellung in der Pinakothek der Moderne. Ab Ende 2025 realisiert er das erste von drei Rotundenprojekten, die von der Staatlichen Graphischen Sammlung München kuratiert werden. Der dazugehörige Katalog versammelt zentrale Skulpturen, die der Künstler in den letzten zehn Jahren geschaffen hat, und gibt einen Überblick über seine eigensinnige künstlerische Entwicklung. Daneben dokumentiert er Rincks fulminantes Crescendo von mehr als dreißig neu geschaffenen Skulpturen, die unter dem Titel Der Alpen-Clan kehrt zurück in die Pinakothek Einzug gehalten haben. Wie selbstverständlich beschwören sie ein bajuwarisches Lebensgefühl herauf, in dem tradierte Kulturpraktiken wie Brauchtum und Aberglauben, aber auch Heimatstolz und nicht zuletzt Festtagskultur neu interpretiert werden. Rincks jüngst geschaffenes Panoptikum für die Pinakothek der Moderne hinterfragt mit Humor in seiner ortspezifischen Installation regional geprägte kulturelle
Praktiken, macht sie sich zu eigen und deutet sie um. Nicht ohne ein Augenzwinkern stellt er – man erinnere sich an die hierarchische Strukturen außer Kraft setzende mittelalterliche Festkultur, wie sie beispielsweise noch rudimentär im bayerischen Fasching fortlebt – der bestehenden Ordnung eine Alternative gegenüber. Hier zeigt sich seine subtile künstlerische Strategie, mit der er komplexe Fragen eher zur Diskussion stellt, als dass sein Werk eindimensionale Antworten bereithält.
In this way, the well-read artist draws us deep into the history of art and culture, whose traces can be seen in his work, sharing with us his wealth of knowledge. His enthusiasm for Gothic and Romanesque cathedral architecture, for example, is unmistakable. In jest, one might claim that his sculptures reactivate the defensive magic of these buildings for our times. Many of his works quote epoch-making milestones, transferring them into a new form, not least in order to respond to the present.
This publication accompanies Rinck’s solo exhibition at the Pinakothek der Moderne, the first of three projects in the Rotunda curated by the Staatliche Graphische Sammlung München from late 2025. The catalogue brings together key sculptures created by the artist over the past decade, offering an overview of his distinctive development. It also documents a mighty crescendo, with more than thirty new sculptures entering the Pinakothek under the title Der Alpen-Clan kehrt zurück (The Return of the Alpine Clan). Nonchalantly evoking a Bavarian way of life, they offer a fresh take on traditions, such as customs, superstitions, and festivities, but also pride in this heritage. In the site-specific installation, Rinck’s latest cast of characters humorously questions regional cultural practices, appropriating and reinterpreting them. With a trace of mischief that recalls the medieval culture of upending hierarchical structures on certain feast days – a culture that survives in rudimentary form in Bavarian carnival – he proposes an alternative to the existing order. This reflects a subtle artistic strategy that prefers to discuss complex issues rather than offering one-dimensional answers.
Welche Idee aber verbirgt sich hinter dem bewusst reißerisch aufgemachten Titel seiner Installation für die Pinakothek der Moderne? Der Blick fällt sofort auf die zentrale Skulptur inmitten der Figurentraube. Es ist ein kleines Mädchen, um das sich eine Entourage vielgestaltiger Figuren jedweder Couleur schart. Mit entschlossenem Blick schaut sie voraus, was ihre mitgeführte archaisch anmutende Keule und das Schild mit dem staatstragenden bayerischen Rautenmuster unterstreichen mögen. Der Insignien nicht genug, ist sie gleich einer Schamanin in das Fell eines Löwen gehüllt, während ihr Haupt von dessen Autorität einflößenden übergroßen Schädel bekrönt wird. Die Anspielung auf das bayerische Wappentier versteht sich von selbst. Welcher Epoche sie auch immer entsprungen sein mag, es ist augenscheinlich klar, dass sie die geistige Anführerin des Alpen-Clans ist. Es genügt Rinck nicht, vermeintlich naiv viel diskutierte Rollenverständnisse zu verwirbeln. Vielmehr greift er an dieser Stelle tief in den Fundus der politischen Ikonographie hinein und kleidet seine Heldin mit Versatzstücken aus, die nicht von ungefähr den klassischen Dresscode des mythologischen Helden Herkules zitieren, dessen Garderobe heutzutage eher das Klischee maskuliner Allmachtphantasien bedient.
What is the idea behind the deliberately sensational title of Rinck’s installation for the Pinakothek der Moderne? Our eyes are immediately drawn to the sculpture at the center of the group – a small girl thronged by an entourage of multifarious figures. Looking straight ahead, she appears resolute, an impression reinforced by the archaic club she is carrying and her shield bearing the Bavarian state’s heraldic pattern of blue and white lozenges. As if these insignia were not enough, she is also cloaked in a lion skin, like a shaman, while her head is crowned by its awe-inspiring, supersized skull – an obvious reference to Bavaria’s heraldic beast. Whatever epoch she comes from, it is clear that she is the spiritual leader of the Alpine Clan. For Rinck, it is not enough here to naively stir up muchdiscussed gender roles. Instead, he reaches into the storehouse of political iconography and clothes his heroine in elements that quote the classical dress code of the mythological hero Hercules, whose garb is now more usually associated with clichéd dreams of masculine omnipotence.
Was auch immer hier vorgeht, so hat es den Eindruck, als wolle Stefan Rinck uns mit seinem Alpen-Clan den Spiegel vorhalten. Da ist beispielsweise auch die Figur der Percht, die in den sogenannten „Raunächten“ zwischen dem 24. Dezember und dem 6. Januar, also zwischen Heiligabend und Heilige Drei Könige, jedes Jahr in den bayerischen Alpen ihr Unwesen treibt und in den Bergdörfern als Verkörperung des Bösen unsere Urängste wecken will und uns genauso in Schrecken versetzt wie die verwandte männliche Figur des Krampus. Stefan Rinck stellt sie als schwarze, unförmige Masse aus hochpoliertem belgischem Blaustein dar, aus deren blinden Augenhöhlen nichts Gutes zu uns spricht. In der Gruppe finden sich aber auch verschiedenste kleinfigurige, zottige Trolle, die sich ohne Scheu auf dem fremden Terrain der Pinakothek der Moderne bewegen, so als wären sie hier zu Hause. Und damit sind wir auch schon beim Wunschziel dieses Mummenschanzes angelangt. Wie das Mammut, das einst die kalten Regionen unserer Landschaft bevölkerte, haben sich auch einzelne blaugraue Regentropfen dem Zug angeschlossen, um, so könnte man sie deuten, auf die Misere hinzuweisen, dass die Alpenregion aufgrund der immer größer werdenden Wasserknappheit und dem andauernden Mangel an Schnee zukünftig nicht mehr zu ihrem Siedlungsgebiet zählen wird. Offensichtlich stellt der Alpen-Clan plötzlich in der Rotunde der Pinakothek der Moderne vieles zur Diskussion und die Besucher sind eingeladen, daran teilzunehmen.
Schlussendlich hat der Philanthrop Stefan Rinck für seine Ausstellung in der Pinakothek der Moderne alle guten Geister seines Œuvres zusammengerufen, die ihm in den letzten zehn Jahren in den Sinn gekommen sind, und sie zu einem gewichtigen und zugleich federleichten Opus magnum verdichtet.
Whatever is happening here, it seems as if Rinck wants to hold up a mirror to us with his Alpine Clan. Here is the figure of Percht, for example, who walks abroad in the mountain villages of the Bavarian Alps on each of the twelve nights of Christmas, between December 24 and January 6, an embodiment of evil designed to awaken our primaeval fears, spreading terror like the related male figure of Krampus. Rinck portrays them as amorphous black masses of polished Belgian bluestone, their blind eye sockets telling us nothing good. But the group also includes a range of ragged little trolls that move fearlessly across the unfamiliar terrain of the Pinakothek der Moderne, as if they were at home. Which brings us to the chosen destination of this masquerade. Like the mammoth, that once populated the cold reaches of our landscape, individual blue-gray raindrops have also joined the procession in order, perhaps, to highlight the plight of an Alpine region where, amid ongoing water shortages and dwindling snowfall, they may soon be an endangered species. Suddenly, then, the Alpine Clan is here to discuss many issues – and visitors to the Rotunda are invited to take part.
Ultimately, for his exhibition at the Pinakothek der Moderne, the philanthropist Stefan Rinck has summoned the good spirits that have come to his mind over the past decade, bringing them all together in an opus magnum that both conjures and defies gravity.
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