Neuerwerbungen

2022

Isa Genzken

Isa Genzken, März, 1983, Bleistift und Farbstift, 420 x 295 mm, Staatliche Graphische Sammlung München, Dauerleihgabe von PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e.V., München © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 ǀ Isa Genzken, Untitled, 1985, Bleistift und Kreide, 297 x 211 mm, Staatliche Graphische Sammlung München, Dauerleihgabe von PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e.V., München © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 ǀ Isa Genzken, Untitled, um 1970, Collage mit farbigen Papier auf Karton, 303 x 215, Schenkung Kunsthandel, Köln, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 ǀ Isa Genzken, Untitled, 1981, Computerausdruck auf Endlospapier, auf Karton montiert, beides nochmals auf einen weiteren, größeren Karton montiert, 305 x 429 mm (Endlospapier auf Karton), 578 x 428 mm (größerer Karton), Schenkung Privat, Grünwald, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Mit der fulminanten Erwerbung von fünf singulären Collagen Isa Genzkens von 1968 konnte der Freundeskreis der Pinakothek der Moderne 2017 ein Hauptwerk avant la lettre von dieser herausragenden Künstlerin ihrer Generation für das Haus dauerhaft sichern. Innerhalb der Sammlungsbestände der Staatlichen Graphischen Sammlung München sollten die überarbeiteten Siebdrucke eine zentrale Lücke schließen. Heute wissen wir, dass sie in der Ambivalenz ihrer ästhetischen Parameter weit über ihre Zeit hinausweisen und Kunstgeschichte schreiben werden.

Mit dieser ersten Setzung erschien es umso dringlicher, dem gewichtigen Frühwerk weitere singuläre Spitzenblätter des schmalen graphischen Werkbestands der Künstlerin beizugeben, die das gesamte bildhauerische und skulpturale Werk von Isa Genzken bis in die späten 1980er-Jahre, dem Zeitraum, in dem sie ihr graphisches Œuvre nahezu abschließt, quasi als Quintessenz auf den Punkt bringen.

2021 konnte der Freundeskreis mit einem sammlungsbestimmten Ankauf eine Gruppe von sechs einzelnen Spitzenblättern aus den 1970er-und 1980er-Jahre für sich gewinnen und damit im nationalen Vergleich alleinig einen zentralen Korpus graphischer Werke dieser Ausnahmekünstlerin für eine öffentliche Sammlung sichern, der dem Vergleich mit Werkgruppen anderer internationaler Häuser standhält und in seiner Güte schon heute nicht mehr zu realisieren wäre.

Isa Genzken entwickelt ihre frühen dreidimensionalen Werke seit den 1970er-Jahren in erster Linie in der Zeichnung, und zugleich stellt sie in ihren graphischen Blättern Vorüberlegungen an, die augenscheinlich auf ihre spätere Ideenwelt hinweisen. Beispielsweise formuliert sie in der sublimen unbetitelten großformatigen Collage von 1970, die während der Zeit ihres Studiums in Hamburg an der Hochschule für Bildende Künste entstanden ist, in der radikalen Ausschnitthaftigkeit, den strukturellen Schichtungen und den angedeuteten Spiegelungen eine künstlerische Sichtweise, die sich zuerst in den späteren skulpturalen Ellipsoiden wiederfinden lässt, ihrem späteren gesamten Werk aber zu eigen sein wird. Bereits hier klingt das Prinzip der Durchdringung eines Motivs an, das die Künstlerin fortan beschäftigen wird.

Isa Genzken, JOB E7142 RZEGKKST 25/07/77 15.30.23”, 1977, Computerausdruck on continuous paper, 303 x 3995 mm, Staatliche Graphische Sammlung München, Dauerleihgabe von PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e.V., München © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Dagegen öffnet die zweite mit „März“ betitelte farbige Zeichnung von 1980, die von einer präzisen maßgenauen Berechnung der später realisierten gleichnamigen Skulptur begleitet wird, den Weg von den bodennahen Arbeiten der Ellipsoiden und Hyperbolos hin zu den in den Raum ausgreifenden Skulpturen. Ganz nebenbei erweisen sich die Zeichnung und die gleichnamige Skulptur als Hommage auf den von ihr geschätzten Künstlerkollegen Kurt Schwitters und dessen Hauptwerk „Merzbau“ 1923 und geben mit dem Titel einen Hinweis auf die weitreichende Ideenwelt der Künstlerin.

In einem dritten Blatt deutet sich an, wie Isa Genzken ihre bildhauerischen Überlegungen in den 1980er-Jahren in den Stadtraum ausweitet, wenn sie einen skulpturalen Entwurf in einen mit Figurinen besetzen Bildraum stellt. Geradezu eine Anspielung auf ihre vielfältigen Außenprojekte, die aufgrund ihrer Radikalität fast ausnahmslos unrealisiert geblieben sind. Schlussendlich wird das Konvolut von drei in rot gehaltenen Blättern abgerundet, die zeichnerisch en détail um die Werkgruppe ihrer frühen Bodenskulpturen der Ellipsoide kreisen. Bei dem mit „JOB E7142 25/07/77 15.30.23” betitelten Computerprint von 1977 handelt es sich um eine maßstabsgetreu ausgedruckte Umrisszeichnung für eine solche Skulptur.

Die Computerzeichnung, die man heute mit Sicherheit an jedem Rechner über ein Graphikprogramm entwerfen könnte, bedurfte in den 1970er-Jahren präzisester Berechnungen und Vorgaben von Seiten der Künstlerin, die sie an einen befreundeten Informatiker weitergab, der die Skulptur in tagelanger Handarbeit über ein individuell geschriebenes Programm graphisch entwickelte. Der Print veranschaulicht beeindruckend die Perfektion mit der sie ihre frühen Skulpturen erdachte und ausführte.

Parallel dazu geben die zwei unbetitelten Handzeichnungen von 1980 einen Eindruck davon, in welchem Maß sie ihre Skulpturen zeichnerisch examiniert und hinterfragt, sowie schlussendlich geradezu an die menschliche Natur rückbindet.

In der Zusammenschau zählen die vorgestellten Blätter zum Korpus graphischer Schlüsselwerke dieser Ausnahmekünstlerin, deren großformatige Installationen in den letzten dreißig Jahren die Grenzen der Materialästhetik fortlaufend neu abgesteckt haben.

Isa Genzken, Untitled, 1980, Tusche, Bleistift und Aquarellfarbe auf Velinpapier, 70 x 100 mm, Ankauf Kunsthandel, Köln, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 ǀ Isa Genzken, Untitled, um 1970, Collage mit schwarzem Papier und Graphitstift, Spuren von Aquarellfarbe, 297 x 394 mm, Staatliche Graphische Sammlung München, Dauerleihgabe von PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e.V., München © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 ǀ Isa Genzken, Untitled, undatiert (20. Jh.), Kugelschreiber auf Velinpapier, 216 x 276, Schenkung Kunsthandel, Köln, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Utagawa Kuniyoshi (Inventor), Maruya Kyoshiro (Verleger), Linker Bildteil des Triptychons "Der Palast des Drachenkönigs" (Ryugujo), 1858, Farbholzschnitt auf Japanpapier, 358 x 241 mm, Ankauf Kunsthandel, Berlin
Jankel Adler, o. T. (Selbstbildnis), undatiert (20. Jh. 1. H.), Pastell und Tusche auf Velinpapier, 350 x 248 mm, Ankauf Kunsthandel, Berlin
Egon Schiele, Krieg, Titelbild der Zeitschrift "Der Ruf", Sonderheft "Krieg" (Verlag Brüder Rosenbaum, Wien, November 1912), 1910, Farblithographie auf Papier, 228 x 147 mm, Ankauf Kunsthandel, Wien
Barbara Hammer, 5 Rectangles, 1969–1971, Acryl, Spritztechnik auf Papier, 660 x 506 mm, Ankauf Kunsthandel, Berlin, © Barbara Hammer, courtesy Company Gallery New York und KOW Gallery Berlin
Gert H. Wollheim, Otto Dix, 1921, Feder in Schwarz auf Skizzenblockpapier, 346 x 254 mm, Ankauf Kunsthandel, Berlin, © Gert H. Wollheim
Stefano Della Bella, Ungarischer Reiter nach links, Probedruck, 1648/50, Radierung in Braunschwarz, 193 x 187 mm (Platte), 199 x 195 mm (Blatt), Ankauf Kunsthandel, Frankfurt

Von Stefano della Bella haben sich im Zusammenhang mit der Radierfolge vorbereitende Zeichnungen erhalten. Die Münchner Neuerwerbung zeigt jedoch, dass della Bella sogar noch auf der Radierplatte umfangreichere Korrekturen vornahm und nicht davor zurückschreckte, dass er die entsprechenden Partien für die Änderungen zuvor sorgsam auspolieren musste. Der Probeabzug weist markante Feder-Akzentuierungen unter der pelzbesetzten Kopfbedeckung, im Bart und im Bereich der Augen auf. Diese Korrekturen wurden von della Bella aber nicht weiter verfolgt, vielmehr entschloss er sich, das Gesicht völlig neu zu konzipieren. Ist es im Probedruck noch im Halbprofil nach rechts gewandt, wendet es sich in der endgültigen Fassung dem Betrachter frontal zu und die Augen suchen den direkten Blickkontakt.

Stefano della Bella ǀ Ungarischer Reiter nach links

Stefano della Bellas (1610–1664) Folge der „Exotischen Reiter“ umfasst elf Blatt und zeigt polnische, ungarische und afrikanische Reiter im Rund. Die Arbeiten zählen in ihren detailreichen Schilderungen zu den bedeutendsten Zeugnissen der Radierkunst des gebürtigen Florentiners. Sie entstanden gegen Ende des 30-jährigen Krieges und unterstreichen della Bellas ausgeprägtes Interesse für alles Militärische. Die Reiter sind sämtlich in ihrer landestypischen, repräsentativen Kleidung wiedergegeben und stehen leicht erhöht vor einer Landschaft, die verschiedene Kennzeichen ihrer Heimat aufweisen soll. Weitere Soldaten erscheinen im Hintergrund auf ihren Pferden als kompositorische Echos der Hauptfigur. Die Physiognomien der Reiter sind treffend beobachtet, der Ausdruck der Köpfe ist überzeugend und die Situation der paradierenden Pferde glaubhaft zum Ausdruck gebracht. 

Stefano della Bella, Ungarischer Reiter nach links, 1648/50, Radierung in Schwarz, 193 × 187 mm (Platte), 196 × 192 mm (Blatt)

Gil Shachar

Gil Shachar, Ohne Titel, 2014, Bleistift auf Velinpapier, 296 x 210 mm, Schenkung Gil Shachar, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 ǀ Gil Shachar, Kopf im Stein eingebettet, 2011, Bleistift auf Velinpapier, 296 x 209 mm, Schenkung Gil Shachar, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Gil Shachar, Ohne Titel, 2010, Bleistift auf Velinpapier, 296 x 209 mm, Schenkung Gil Shachar, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 ǀ Gil Shachar, Kopf in einem Kürbis, 2009, Bleistift auf Velinpapier, 296 x 208 mm, Schenkung Gil Shachar, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Julius Schnorr von Carolsfeld, Bildnis der Maria Heller, Feder in Schwarz auf Bütten, 159 x 123 mm, Ankauf Kunsthandel, Berlin ǀ Julius Schnorr von Carolsfeld, Bildnis des Komponisten Sigismund Ritter von Neukomm, Graphitstift auf Velinpapier, 237 x 172 mm, Ankauf Kunsthandel, Berlin

2021

Michele Marieschi, Magnificentiores Selectioresque Urbis Venetiarum Prospectus, Venedig 1741

Michele Marieschi (1710–1744) war der Sohn eines Kupferstechers und Schüler des weit vernetzten venezianischen Malers Gaspare Diziani. Um 1730 arbeitete Marieschi vermutlich als Theatermaler in Deutschland. Seit 1735 wieder in Venedig, avancierte er zu einem der profiliertesten Maler von Ansichten seiner Heimatstadt. Seine druckgraphische Serie Magnificentiores Selectioresque Urbis Venetiarum Prospectus aus dem Jahr 1741 wetteifert mit ihren 23 Blatt an Größe und Qualität mit Werken seines Konkurrenten, Antonio Canal, genannt Canaletto. Durch erweiterte Blickwinkel und eine variantenreiche Staffage, die den Vordergrund der Bildräume einnimmt und oft nobel gekleidete Damen und Herren aus höheren Gesellschaftskreisen zeigt, gab Marieschi seinen Arbeiten ein unverwechselbares Erscheinungsbild. Mit seiner von Helldunkelkontrasten bestimmten Radiertechnik, die – für Venedig ungewöhnlich – auch mit Kreuzschraffuren arbeitet, kreierte er einen eigenen Stil. Gern stellte der Künstler religiöse Umzüge dar, setzte aber wie zum Kontrast auch hie und da Gewalttaten ins Bild – auch dies eine für die venezianische Vedutenkunst atypische Note. Das neu erworbene Münchner Album umfasst Michele Marieschis Serie vollständig im seltenen ersten Zustand und bereichert den Münchner Bestand an venezianischen Ansichten des 18. Jahrhunderts auf willkommenste Weise.

Michele Marieschi, Ca‘ Pesaro und angrenzende Paläste, mit einer über den Canal Grande setzenden Prozession rechts, Radierung, 319 × 469 mm (Platte), Ankauf Kunsthandel, München
Michele Marieschi, Der Canal Grande bei San Geremia, Radierung, 318 × 473 mm (Platte), Ankauf Kunsthandel, München | Michele Marieschi, Ansicht der Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari, mit der Szenerie eines Überfalls auf dem Ponte dei Frari, Radierung, 319 × 470 mm (Platte), Ankauf Kunsthandel, München

Erwerbung Gerhard Richter 3 Bleistiftzeichnungen

Gerhard Richter, 6.4.2020 (2), 2020, Graphitstift auf Velinpapier 210 x 297 mm, Staatliche Graphische Sammlung München, Dauerleihgabe von PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e. V., München, © Gerhard Richter 2022 (07112022) | Gerhard Richter, 7.4.2020, 2020, Graphitstift auf Velinpapier, 210 x 297 mm, Staatliche Graphische Sammlung München, Dauerleihgabe von PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e. V., München, © Gerhard Richter 2022 (07112022) | Gerhard Richter, 8.4.2020, 2020, Graphitstift auf Velinpapier, 210 x 297 mm, Staatliche Graphische Sammlung München, Dauerleihgabe von PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e. V., München, © Gerhard Richter 2022 (07112022)
Gerhard Richter, 21.2.2020 (3), 2020, Graphitstift, farbige Ölkreide und schwarzer Kugelschreiber auf gestrichenem Papier, 270 x 400 mm, Ankauf vom Künstler, © Gerhard Richter 2022 (07112022) | Gerhard Richter, 26.3.2020, 2020, Graphitstift und farbige Ölkreide auf gestrichenem Papier, 270 x 400 mm, Schenkung vom Privat, München, © Gerhard Richter 2022 (07112022) | Gerhard Richter, 21.2.2020, 2020, Graphitstift und farbige Ölkreide auf gestrichenem Papier, 270 x 400 mm, Schenkung S.K.H. Herzog Franz von Bayern, © Gerhard Richter 2022 (07112022)

Frühjahr 2020. Das Atelier des Malers ist aufgelassen, der Werklauf der Malereien abge­schlossen. In der weltlichen Abgeschiedenheit des Kölner Ateliers entstehen unter Gerhard Richters Hand nunmehr einzig Zeichnungen. Am aufgeräumten Schreibtisch des Malers finden sich die Werkzeuge des Zeichners: Bleistifte unterschiedlicher Härtegrade, Radiergummi und Lineal. Es ist an der Zeit, in diesem Freiraum jenseits überbordender Diskurse zu seinem Gesamtwerk über Zeichenkunst nachzudenken – Gerhard Richters Zeichenkunst. Die Fülle dieses virtuosen Werkblocks ist mit Blick auf sein zeichnerisches Gesamtwerk überraschend. Anstelle eines Intermezzos setzt sie einen fulminanten Schlussakkord.

„Die kleinen Abstrakten Bilder waren [...] eine Erholung, eine Art Altersleichtsinn – ich muss nichts mehr beweisen, ich darf mich etwas gehen lassen. Nicht unkontrolliert, aber nicht mit einem so ausgesprochenen Willen oder einem Ziel …“ Das mag auch für die Münchner Auswahl von Gerhard Richters jüngsten Zeichnungen zutreffen. In diesem Sinne erprobt und variiert Richter in den Blättern Kontraste und Bezüge zwischen Fläche und Raum, Struktur und Linie sowie Form und Informel in jedem Blatt neu, um bei aller Un­beschwertheit seinen Zeichnungen eine Haltung zu geben – sein Maß aller Dinge. Die Suite der Bleistiftzeichnungen erscheint wie das Finale einer Partitur, das schlussendlich zur Ruhe kommt und in dem jede zeichnerische Nervosität und Härte ausklingt.

Die graphischen Elementarformen geben den kleinformatigen Gri­saillen in ihrer ungreifbaren Monochromie entgegen ihrer realen Größe einen monumentalen Charakter. Beispielsweise gleiten die informellen Motive der Blätter vom 6.4.2020 (2) und 7.4.2020 schwerelos im Bildraum dahin, der sich leichterdings über die Blattgrenzen weiterdenken lässt. Der Zeichner Gerhard Richter erweitert seine stilistischen Mittel in den Grisaillen um das von ihm zur Technik erhobene Ausradieren und zeichnet in die grauschwarzen Valeurs mit dem Radiergummi scharf schnei­dende oder auch weich fließende bis neblig diffuse Linien hinein wie beispielweise in der Zeichnung vom 8.4.2020, die die sanfte Dramatik der einfarbigen Blätter einmal mehr stei­gern. Zusätzlich stimuliert er die monochromen Kompositionen, wenn er in die bleigrauen Flächen mit den Fingern hineinlaviert und teilweise scharf abgegrenzte Farbränder herausmodelliert, die den Zeichnungen partiell eine räumliche Dimension geben.

Mit den Monochromien treibt Richter seine lang erprobte zeich­nerische Virtuosität auf die Spitze und verleiht den Werken eine zeitlose Dimension. Von Blatt zu Blatt gewinnt man zunehmend den Eindruck, dass der Künstler in der spröden Technik der Bleistiftzeichnung mit ihren begrenzten zeichnerischen Mitteln geradezu aufgeht, ihr mit Nonchalance jede Feinheit und Varianz entlockt und nahezu koloristische Blätter schafft. Es gelingt ihm, für jedes Blatt eine präzise zeichnerische Formulierung zu finden, ohne sich auf abstrakte Formen, konkrete Motive oder komposi­tionelle Arrangements einzulassen.

Wade Guyton

Wade Guyton, Untitled (Pevsner 65), 2003, Tinte, Epson DURABrite inkjet auf Buchseite, 255 x 193 mm, Ankauf vom Künstler © Wade Guyton | Wade Guyton, Untitled (...mpfen am Neckar 1600. Fränkisch), 2002, Tinte, Epson DURABrite inkjet auf Buchseite, 262 x 186 mm, Ankauf vom Künstler, © Wade Guyton | Wade Guyton, Untitled, 2004, Tinte, Epson DURABrite inkjet auf Buchseite, 254 x 220 mm, Ankauf vom Künstler © Wade Guyton

Barbara Hammer ǀ Chumash Bright & Chumash Bright 2

Barbara Hammer, Chumash Bright 2, 1969/71, Acryl auf Papier, 1220 x 786 mm, Staatliche Graphische Sammlung München, Dauerleihgabe PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e. V., München, © Barbara Hammer, courtesy Company Gallery New York und KOW Gallery Berlin

Mit Hilfe von PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne konnten 2021 zwei großformatige Zeichnungen, „Cumash Bright“ und „Cumash Bright 2“ aus der Hand der damals jüngst verstorbenen amerikanischen Künstlerin Barbara Hammer (1939 – 2019) erworben werden. Dies ist ein großer Zugewinn für die Sammlung, da ihr Werk zu Lebzeiten vom Kunstmarkt nahezu unbeachtet blieb. Dem nicht genug war sie als lesbische Filmemacherin und politische Aktivistin Teil einer subkulturellen Randgruppe der amerikanischen Gesellschaft. Sie wäre also eine perfekte Quotenfrau, würde man das museale Lobbyregister der Old White Men neu verhandeln.

Barbara Hammer hat Schlagworte wie Queer als selbstbestimmte und unabhängige Frau immer als begriffliche Einengung verstanden. Auch ging ihr malerisch-zeichnerisches Werk nie wirklich verlustig. Vielmehr ist es in ihrer filmischen Arbeit aufgegangen und bleibt damit in einer anderen Form sichtbar. Sei es drum, ihr spektakuläres künstlerisches Frühwerk der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre überrascht uns heute mit dem zeitlichen Abstand einmal mehr. Zweifellos fordert es zu dem Vergleich mit Meisterblättern männlicher Künstlerheroen aus ihrer Generation heraus. In der Regel fehlen hochkarätige Werke von Künstlerinnen in den Museumssammlungen, so dass wir diese Gegenüberstellung vertagen müssen. Setzen wir daher zur Beantwortung der Frage nach der Relevanz der Erwerbung jenseits neuer Reglements noch einmal neu an. Auf den ersten Blick verteilen sich auf den beiden buntfarbigen Zeichnungen lose gestreut biomorphe Formen, die im Prozess des Werdens zu sein scheinen, so als könnten sie jeden Augenblick ihren Zustand verändern und die formlosen Motive sich zu eindeutigen Objekten auswachsen.

Barbara Hammer, Chumash Bright 2, 1969/71, Acryl auf Papier, 1220 x 786 mm, Staatliche Graphische Sammlung München, Dauerleihgabe PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e. V., München, © Barbara Hammer, courtesy Company Gallery New York und KOW Gallery Berlin

Beflügelt wird diese Vorstellung beispielsweise von der sternenförmigen Konstellation rechts unten auf „Chumash Bright 2“. Insgesamt erscheint die Farbverteilung eher intuitiv, ein kompositioneller Mittelpunkt wird ausgespart und die Motive sind lose verstreut statt kompositionell zueinander geordnet. Ihre Bedeutung bleibt so rätselhaft wie die der Vorbilder auf die sich die Künstlerin bezieht. Es sind die Felsen- und Höhlenmalereien der First Nations aus dem Stamm der Chumash, die über Jahrhunderte in der Küstenregion Kaliforniens beheimatet waren. Ein Teil ihrer spirituellen Identität hat sich in den zum Teil Jahrhunderte alten kultischen Malereien bewahrt auch wenn ihre Kultur durch den weißen Mann ausgelöscht wurde. Hammer suchte nach ihrem Coming-Out auf ausgedehnten Motorradtouren mit ihrer Partnerin in den Weiten Kaliforniens nach eben diesen unberührten Orten der geistigen Freiheit für ihr Leben und für ihre Kunst.

PIN ist es gelungen mit der Erwerbung von „Chumash Bright“ und „Chumash Bright 2“ zwei frühe Schlüsselwerke Barbara Hammers zu erwerben. Sie grenzen sich unmissverständlich von der erkalteten Verve der alles übertönende Malerei der New York School ab, die auch international in der Zeit als Dogma unumgänglich schien. Hammers Blätter künden von einer neuen nonkonformen Generation junger Künstler zu der sie selbst zählt, die unverbrauchte Referenzen jenseits des etablierten Kanons für sich nutzbar machten und mit neuen Fragestellungen und anderen ästhetischen Parametern alles anders machen wollten.

Rei Naito, Under the distance, the root of the light is flat, 1989, Bleistift und Buntstift auf Papier, 357 x 255 mm, Ankauf Kunsthandel, Berlin, © Rei Naito
Eva Hesse, Untitled, 1965, Kreide, Aquarell und Bleistift auf Papier, 505 x 606 mm, Ankauf von Privat, München, © The Estate of Eva Hesse. Galerie Hauser & Wirth, Zürich
Léon Davent (zugeschrieben), Michelangelo im Alter von 23 Jahren, vor 1550, Radierung, 141 x 89 mm (Blatt), Ankauf Kunsthandel, Berlin
Frans Snyders, recto: Jagdhunde hetzen ein Wildschwein; verso: ein Eselskopf (?), recto: Feder in Braun; verso: Bleistift auf Büttenpapier, 184 x 291 mm, Ankauf Kunsthandel, Berlin

2020

Jackson Pollock, Ohne Titel, 1945, Tusche auf dunkelblauem Papier, 292 x 222 mm, Staatliche Graphische Sammlung München, Dauerleihgabe von PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e. V., München, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

2019

Karl Horst Hödicke, Entwurf, 1972, ca. 297 x 210 mm, Staatliche Graphische Sammlung München, Schenkung S. K. H. Herzog Franz von Bayern 2019 © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

KIKI SMITH, SCHENKUNG IHRES DRUCKGRAPHISCHEN WERKS

Laut Schenkungsvertrag von 2014 lässt Kiki Smith (*1954) ihr gesamtes in Auflage erschienenes druckgraphisches Œuvre der Graphischen Sammlung zukommen. Bis jetzt sind dies 254 Nummern, Inv.-Nr. 2015:284 D bis 2015:392 D, 2016:16 D bis 2016:94 D, 2018:3 D bis 2018:63 D, 2018:66 D bis 2018:69 D, 2018:76 D bis 2018:82 D. Die 254 Nummern wiederum umfassen 196 Einzelblätter, 43 mehrteilige Arbeiten, Serien und Mappenwerke (mit 252 Drucken) sowie 13 Künstlerbücher (mit 434 Drucken). Schlüsselt man diese in ihre Einzeldrucke auf, ergibt sich eine Gesamtzahl von 882. Weltweit ist damit die Graphische Sammlung die einzige öffentliche Institution, in der das publizierte druckgraphische Werk von Kiki Smith so umfassend vertreten ist. – Literatur: Ausst.-Kat. Touch. Prints by Kiki Smith (München, Staatliche Graphische Sammlung), hg. von Michael Hering und Birgitta Heid, Köln/München 2019. – Der Catalogue Raisonné zu der Schenkung erscheint in der Online Datenbank der Staatlichen Graphischen Sammlung.

Zur Datenbank

 

Zentrales Thema im Werk von Kiki Smith ist die Frage nach dem Dasein des Menschen. Parallel zu richtungsweisenden Künstlern wie Nancy Spero oder Félix González-Torres begann sie, in ihrem Frühwerk der 1980er-Jahre den menschlichen Körper zunächst in der Form von Fragmenten zu thematisieren (z. B. ›How I know I’m Here‹; vierteiliger Druck, Linoleumreliefdruck; je Blatt ca. 295 x 1100 mm; Inv.-Nr. 2016:29-01-04 D. – ›Untitled (Kidneys)‹, 1995; Kartoffeldruck mit Blattgold; 498 x 780 mm; Inv.-Nr. 2015:291 D). Zeitaktuelle politische Fragen, wie der Umgang mit AIDS oder die Emanzipation, fanden in ihren Werken Resonanz. Seit 1992 wendet sie sich auch dem Tier als Begleiter des Menschen zu (z. B. ›Ginzer and the Birds‹, 1996; Lithographie, Collage; 446 x 528 mm; Inv.-Nr. 2015:293 D). Gleichzeitig begann sie, in biblischen Geschichten und seit 1999 auch in  Märchen die wechselvolle Existenz des Menschen zu ergründen (z. B. ›Blue Prints: Virgin Mary‹, 1999; Radierung; 277 x 204 mm Platte, 511 x 409 mm Blatt; Inv.-Nr. 2015:331 D. – ›Pool of the Tears II‹; Radierung, Aquatinta und Kaltnadel; 1209 x 1821 mm Platte, 1295 x 1899 mm Blatt; Inv.-Nr. 2016:30 D). Seit Ende der 1990er-Jahre spürt sie zudem der Verbindung des Menschen zu Natur und Kosmos nach (z. B. ›Tidal‹, Künstlerbuch, Akkordeonfaltbuch mit Fotogravüre; Offsetlithographie und Siebdruck in einer handgefertigten leinengebundenen Schachtel; Buch geöffnet 489 x 3207 mm; Inv.-Nr. 2016:26 D). 

Viele ihrer Sujets finden in der Druckgraphik ihren Ausgangspunkt, um anschließend in Skulptur, Glaskunst, Tapisserie und andere Medien übersetzt zu werden. Seit Beginn ihrer Karriere experimentiert Kiki Smith mit druckgraphischen Techniken auf vielfältigste Weise, ergründet in Kooperation mit Druckwerkstätten und Verlegern immer wieder neue Wege und kommt dabei zu einer Material- und Technikvielfalt, wie sie nur wenige Künstler beherrschen. 

Die Arbeit ›Untitled (Hair)‹, 1990 (Lithographie auf Mitsumata handmade Japanese paper; 916 x 916 mm; Inv.-Nr. 2016:16 D) kennzeichnet das Anliegen der Künstlerin, die Sensualität menschlicher Körperteile wiederzugeben. Sie hegte damals den Wunsch, ein Kunstwerk zu schaffen, mit dem sie die Oberfläche des menschlichen Körpers gleichsam in die Fläche ausbreiten konnte. Auf dem großen quadratischen Blatt verteilt sich über die gesamte Fläche eine Fülle an Haaren, die im ersten Moment an das ausgebreitete, abgezogene Fell eines Tieres erinnert. Bei näherer Betrachtung erkennt man jedoch in den oberen Ecken die  Abdrücke je einer Gesichtshälfte; in der rechten unteren Ecke ist der Abdruck eines Nackens zu sehen. Der Druck zeigt die Abwicklung des Kopfes der Künstlerin mit der ihr charakteristischen Haarmähne in der Mitte. Die Oberfläche ihrer Epidermis ist im wörtlichen Sinne auf das Blatt gebracht. Als Vorläufer können Jasper Johns’ vier Zeichnungen ›Study for Skin‹ (1962) gesehen werden, in denen der Künstler seinen Kopf auf dem Papier so abrollte, dass Spuren des Gesichts zurückblieben; dies griff er in der bei Universal Limited Art Editions (ULEA) ausgeführten Lithographie ›Skin with O’Hara Poem‹ (1963–1965) wieder auf. Der lang verfolgte Wunsch von Kiki Smith, den Körper aufgefaltet in einer 360-Grad-Darstellung zu zeigen, gelingt ihr schließlich mit ›My Blue Lake‹, 1995 (Photogravüre, à la poupée eingefärbt und Lithographie auf En Tout Cas paper; 853 x 1162 mm Platte, 1110 x 1391 mm Blatt; Inv.-Nr.: 2018:47 D).

Kiki Smith, Untitled (Hair), 1990, Lithographie in zwei Farben, 916 x 916 mm, © Kiki Smith, courtesy Pace Gallery

WILHELM VON KOBELL, REITER VOR SCHLOSS GREIFENBERG, UM 1802

Wilhelm von Kobell, Reiter vor Schloss Greifenberg, um 1802, Aquarell über Bleistift, 230 x 346 mm, Vermächtnis Ursula Heisinger, Berlin

Wilhelm Kobell (1766–1853), ab 1817 Ritter von Kobell, stammt aus einer Mannheimer Familie von Landschaftsmalern. In den 1790er Jahren begann er sich mit der oberbayerischen Landschaft auseinanderzusetzen. Neben seinen Ansichten von Ortschaften, die er minutiös portraitierte, schuf er Landschaften mit tiefliegendem Horizont, die es ihm erlaubten im Vordergrund wie auf einer Bühne Figuren und Szenen anzuordnen, so auch in seinen Radierungen ab 1800, Serien mit Pferden, Reitern und Hunderassen. Die bislang unpublizierte aquarellierte Federzeichnung ist die direkte Vorlage zu der gleichnamigen Radierung von der sie nur in minimalen Details abweicht. So wirkt sie auf den ersten Blick wie eine kolorierte Druckgraphik.

Wilhelm von Kobell, Reiter vor Schloss Greifenberg, 1802, Radierung, 169 x 198 mm (Plattenmaß)

Denn Kobell schuf Umrissradierungen ausschließlich mit hauchzarten Linien, die er selbst oder auch andere für ihn kolorierten, so dass sie von seinen Aquarellen kaum zu unterscheiden waren. Die kleinen Bilder waren demnach bei seinen Zeitgenossen erfolgreich, weswegen sie heute nur noch selten in gutem Zustand erhalten sind.
Die Gemeinde Greifenberg, nordwestlich des Ammersees gelegen, kannte der Künstler von seinen Sommeraufenthalten auf dem unweit gelegenen Schloss Emming, das seinem Schwiegervater gehörte. Obwohl der Reiter ein Idealtypus ist, verband ihn Kobell also mit einer ganz konkreten Vedute.

FRIEDRICH SUSTRIS, ENTWURF FÜR EINE FASSADENDEKORATION MIT DREI BRUNNEN

Friedrich Sustris, Entwurf für eine Fassadendekoration mit drei Brunnen, Feder in Braun, grau laviert, aufgezogen, 207 x 207 mm

Friedrich Sustris erhielt seine Prägung in Florenz, insbesondere im Atelier von Giorgio Vasari. Von 1563 bis 1567 arbeitete er dort als Gehilfe an der Innengestaltung des Palazzo Vecchio, am Katafalk des 1564 verstorbenen Michelangelo, lieferte Entwürfe für die Gobelinmanufaktur des Cosimo de’ Medici, wurde Mitglied der Accademia del disegno. Spätestens seit 1568 war Sustris nördlich der Alpen tätig, bis 1573 in Augsburg, wo er Dekorationen im Wohnhaus Hans Fuggers realisierte. Danach wechselte er an den Münchner Hof. Drei Jahre lang arbeitete er für die Burg Trausnitz über Landshut, um 1580 nach München berufen zu werden; dort bekam er die Leitung aller wichtigen künstlerischen Projekte übertragen.

Dass sich Sustris mehr und mehr auf’s Zeichnen verlegt hat, rührt von den immer umfangreicher werdenden Verantwortlichkeitsbereichen des, wie er oft bezeichnet wird, »General-Intendanten« der bayerischen Hofkunst. Er lieferte Entwürfe für Skulpturen, gegossene Bildwerke, Kirchengerät, kunsthandwerkliche Arbeiten jeder Couleur, Gemälde, Tapisserien, Möbel und vieles andere, selbst die Anlage von Gärten oblag seinen Anweisungen. Nach Florentiner Vorbild war Sustris verantwortlich für ein Gesamtbild aller bildkünstlerischer Leistungen. Hinzu kommen architektonische Aufgaben, vom Ausbau des Antiquariums und des Grottenhofs der Residenz bis hin zur Planung der Jesuitenkirche St. Michael, seinem baukünstlerischen Hauptwerk. Dass Sustris viel gezeichnet hat, lässt sich sogar statistisch durch das »Einnahmen- und Ausgabenbuch« des Hofs belegen. Sustris werden immer wieder große Mengen Papier ausgehändigt, etwa um »Visier zu machen«, »die Portal und anders auf zu reißen«, »zu mehrlei Model zu machen«. Wie man einen großen Betrieb leitet, hatte er bei Vasari gesehen. Den Mitarbeiterstab dirigierte er mittels seiner als Imperative zu verstehenden Zeichnungen. 
Charakteristisch für Sustris’ Risse ist eine stets gültige Ausformulierung, bei der in kontrolliertem Arbeitsvorgang Feder und Lavierung dominieren. Pentimenti, Experimente während des Zeichnens oder nachträgliches Umarbeiten finden sich kaum jemals. Sustris’ Visierungen zeigen sich vielmehr in blitzblanker Perfektion. Insbesondere der Kontur und die klar durchgezogene Linie bestimmen den Charakter seiner Blätter. Auffällig ist ein offensichtliches Tabu: Sustris scheut die Schraffur; Dunkeleffekte, Tiefe, Räumlichkeit werden ausschließlich mit dem virtuos beherrschten Lavierpinsel erzielt. Parallel- oder Kreuzschraffuren, ein althergebrachtes Hilfsmittel gerade der deutschen Zeichenkunst, wird konsequent gemieden. Das erzielte Klangbild ist dementsprechend klar, durchhörbar, luzide: Sustris, »die bedeutendste Figur des Spätmanierismus höfischer Prägung in Deutschland«, ist »einer der großen Zeichner seiner Epoche« (Heinrich Geissler).
Der als »Italienisch. 17. Jh.« im Kunsthandel neu aufgetauchte kleinformatige Entwurf zeigt eine Fassade, die von Pilastern in drei hochrechteckige Felder unterteilt wird. In die Felder sind halbrund Nischen eingelassen, die Schalenbrunnen aufnehmen. Zentral umfängt eine Konche einen Springbrunnen; die Halbkuppel gibt den formal perfekten Hintergrund für die emporgepumpten, in Bögen herabrieselnden Fontänen. Die flankierenden kleineren Nischen schließen nach oben horizontal ab; raffiniert ist die Konchenform durch darüber eingebaute halbrunde Muschelnischen wiederholt, um zugleich die Möglichkeit zu schaffen, antikisch wirkende Büsten einstellen zu können. Abgeschlossen wird der mannigfach von streng vertikalen und horizontalen architektonischen Elementen gestaltete Wandaufriss durch ein Gesims, das zentral ein seitlich von Vasen begleitetes Wappen bekrönt. Verwandt ist das Blatt einem Entwurf in der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart (Inv.-Nr. 123), der, ausgewiesen durch das Wappen, ein pompöses Brunnenprojet im Wohnhaus Hans Fuggers vorbereitet hat. Auch im vorliegenden, in der charakteristisch snobistischen Kühle gehaltenen Entwurf sind die Geraden scharf mit dem Lineal gezogen; über diesem Raster verteilt die flinke Feder aus dem Handgelenk hingeworfene Aperçus. Auch hier ist das Wappen geviert, freilich sind die Felder noch nicht belegt. Es könnte sich um das Fuggersche Wappen handeln, jedoch auch um das der Herzöge von Bayern. Beim zentralen Brunnen wurde die Basis des Beckens durchgestrichen. Dies mag dafürsprechen, dass es sich um einen Entwurf handelt, der dem Auftraggeber vorgelegt worden war und in diesem Detail abgewandelt werden sollte.

Edward von Steinle, Krönung Mariens, um 1876, Aquarell über Bleistift; 225 x 235 mm
Paul Klee, Ein Kranker macht Pläne, 1939, Bleistift auf Papier, aufgezogen auf Karton, 209 x 297 mm

STUDIEN UND SKIZZEN ÉDUARD VUILLARDS

Entwurf für eine Werbung für das Theâtre libre, verso: Frauenakt, 1890/91, Feder in Schwarz; 182 x 229 mm, Schenkung von Ilse Schmidhuber-Schneider an die Vereinigung der Freunde der Staatlichen Graphischen Sammlung München e.V.

Éduard Vuillard (1868–1940) entwickelte im ausgehenden 19. Jahrhundert einen ganz eigenen Blick auf Figur und Raum. In seinen Zeichnungen ist er ebenso beobachtend wie nachdenkend an dem interessiert, was ihm gerade vor Augen stand. Nicht selten erarbeitete er daraus ein rätselhaftes und überraschendes Bild, das dem Betrachter das Sehen lehren kann. Daneben erweist er sich in seinen Portraits von meist ihm sehr vertrauten Menschen als ein besonders sensibler Beobachter. Das Interesse an Künstlern, denen das Zeichnen ein zentrales Anliegen in ihrem Werk war, eint das Konvolut aus der Münchner Sammlung von Ilse Schmidhuber-Schneider.

Madame Vuillard, um 1905, Bleistift 140 x 110 mm , Schenkung von Ilse Schmidhuber-Schneider an die Vereinigung der Freunde der Staatlichen Graphischen Sammlung München e.V.

Ihre Schenkung ist daher ein besonderer Glücksfall und eine grandiose Erweiterung der Bestände der Staatlichen Graphischen Sammlung München. Neben Zeichnungen von Pierre Bonnard, Georges Lacombe, Max Liebermann, Aristide Maillol, Adolph von Menzel, Paula Modersohn-Becker und Félix Vallotton umfasst das Vermächtnis der Sammlerin auch acht Zeichnungen von Vuillard. Nach früheren Erwerbungen von Zeichnungen und Druckgraphiken des Künstlers sowie nach der Schenkung von Probe- und Zustandsdrucken der Lithographien Vuillards durch Sabine Helms hat damit die Staatliche Graphische Sammlung München einen der herausragenden Bestände an Werken dieses französischen Künstlers.

Giovanni Battista Tiepolo, Kopf eines Mannes mit Kappe, 1750, Rötel, weiße Kreide, 295 x 203/210 mm, erworben durch die Vereinigung der Freunde der Staatlichen Graphischen Sammlung München e.V.
Max Liebermann, Netzflickerinnen, 1897, Schwarze und weiße Kreide, 420 x 570 mm, Schenkung von Ilse Schmidhuber-Schneider an die Vereinigung der Freunde der Staatlichen Graphischen Sammlung München e.V.
Adolph von Menzel, Stehender Mann mit Zylinder, 1867, Bleistift, 380 x 310 mm, Schenkung von Ilse Schmidhuber-Schneider an die Vereinigung der Freunde der Staatlichen Graphischen Sammlung München e.V.

2018

Anne Imhof, Drei Skizzenblätter zur Performance FAUST

Anne Imhof, Ohne Titel, 2017, Bleistift, 356 x 277 mm, Courtesy Anne Imhof und Galerie Buchholz, Berlin/Köln/New York - Anne Imhof, Ohne Titel, 2017, Bleistift, blauer Farbstift, 420 x 297 mm, Courtesy Anne Imhof und Galerie Buchholz, Berlin/Köln/New York - Anne Imhof, Ohne Titel, 2017, Bleistift, ölhaltige Grundierung, Farbfotoausdruck, 420 x 297 mm, Courtesy Anne Imhof und Galerie Buchholz, Berlin/Köln/New York

Anne Imhofs künstlerischer Beitrag für den deutschen Pavillon zur 57. Biennale fügt dem Verständnis von Glas als Werk- und Baustoff für das 21. Jahrhundert einen bislang kaum gesehenen neuen Aspekt hinzu.
Imhof hat den durch die Nationalsozialisten 1938 umgebauten Pavillon mit einer gläsernen Architektur überformt. Im Außenbereich trennten verzinkte mannshohe Zäune und Glaswände den deutschen Pavillon von der offenen Gartenlandschaft ab. Der Grenzziehung verliehen zwei lauthals bellende Dobermänner Nachdruck, die jenseits der Zäune patrouillierten. Im Gebäudeinneren setzten sich die Grenzziehungen fort. Perfekt bemaßte und solide gebaute Glaswände zertrennten teilweise die Durchgänge, gläserne Wandpulte bildeten bizarre Aussichtsplattformen für die Akteure der Performance ›Faust‹ und ein eingezogener Glasboden teilte den Raum in eine Ober- und Unterwelt. Die gläserne Hülle wurde zu einer neuartigen Demonstration von Macht – Glas trennt in Imhofs architektonischer Interpretation unüberbrückbar ab, schließt aus oder ein. Die Frage, wer aus- oder eingeschlossen wird, wer dazu gehört und wer nicht, bleibt zunächst offen. Eine Antwort darauf mag in Imhofs Performance ›Faust‹ zu suchen sein, die die Räume mit neuem Leben füllte. Der »neue Mensch«, der mit der Architektur in den Pavillon Einzug hält, trat in Gestalt junger Akteure auf, die sich, so scheint es, als Einzige frei zwischen den Raumebenen und gläsernen Mauern bewegen konnten.

Erste Gedanken für die Biennale-Performance ›Faust‹ notierte Anne Imhof in zarten Bleistiftskizzen. Sie zielen nicht auf die Architektur, sondern auf die Gesichter und die Körpersprache der Akteure. Mehrfach taucht in den Blättern die Beischrift »Glas« auf, mit der sie Gesichtsmasken und einzelne Körperaccessoires bezeichnet. Die Blätter legen nahe, dass die gläserne Unnahbarkeit der Architektur zuerst auf den Körpern und Gesichtern der jungen Menschen sichtbar werden sollte. In der eigentlichen Performance wird diese Regieanweisung zum Programm. Analog zur äußeren Gefühlskälte der Architektur erscheint das Lebensgefühl der Akteure manipuliert, wird eine Empathielosigkeit verordnet, die sich in der Starre der Gesichter und Gesten ausdrückt. Wo immer sie im Zuge der mehrstündigen Performance im Pavillon auftauchen, demonstrieren die Akteure eine in ihrer Schwere- und Lautlosigkeit perfide und hybride Unnahbarkeit, wie wir sie realiter in unserer aktuellen Alltagskultur zunehmend erleben können. Es ist, als stünde zwischen ihnen und den Biennale-Besuchern eine emotionale Wand aus kaltem Glas: Sie werden zum leibhaftigen Abbild dieses neuen inhumanen gläsernen Mikrokosmos.

HANS ULRICH FRANCK, SEXTUS TARQUINIUS KÖPF MOHNBLUMEN

Um 1590/95 in Kaufbeuren geboren, war Hans Ulrich Franck seit 1637 als Maler, Zeichner und Radierer in Augsburg tätig; dort starb er 1675. Bekannt ist Franck heute vor allem durch 25 bildstarke Radierungen über die Greuel des Dreißigjährigen Krieges, die Leid und Schrecken, Plünderung und Mord rigoros ins Bild setzen. Rund vierzig Zeichnungen orientieren sich in einer gleichsam neomanieristischen Diktion deutlich an Johann Heinrich Schönfeld (1609–1684), mit dem Franck befreundet war. Charakteristisch sind etwa schlank gewachsene Figuren in prätentiöser Haltung oder im Wind strähnig-zerzauste, züngelnde Haarpracht.
Das neu aufgetauchte Blatt beschäftigt sich mit einem selten dargestellten Thema, das in Livius’ ›Ab urbe condita‹, der Chronik Roms, überliefert ist. Sextus Tarquinius, der letzte König vor der Republik Rom, belagert lange ohne Erfolg die nahe gelegene Stadt Gabii. Er greift zu einer List und schickt seinen Sohn Sextus zu den Eingeschlossenen, um sich als vermeintlicher Überläufer und Feind seines Vaters auszugeben. Sextus gewinnt schnell das Vertrauen der Gabier, wird gar zu deren Heerführer gewählt. Um weitere Instruktionen seines Vaters einzuholen, schickt er ihm heimlich einen Boten. Statt mit diesem zu sprechen, schlägt Sextus Tarquinius wortlos die Köpfe am Wegrand stehender, hoher Mohnblüten ab. Der Sohn versteht die stumme Botschaft: Durch Intrige und Mord beseitigt er nach und nach die politische und militärische Führung der Stadt. Derart ihrer Elite beraubt und durch Geschenke gewogen gemacht, entschließen sich die Bürger, Gabii kampflos den Römern zu überlassen. 
Franck hat mehrfach für Augsburger Goldschmiede gearbeitet.

Hans Ulrich Franck, Sextus Tarquinius köpft Mohnblumen, Bleigriffel, Pinsel in Grau, Feder in Schwarz, in Bleiweiß gehöht, 190 x 257 mm

Auch hier mag die stimmig in ein Oval komponierte Zeichnung der Entwurf für einen in Silber getriebenen Schalenboden sein (eine Gattung, von der sich – von neuem Zeitgeschmack rasch überholt und geschwind eingeschmolzen – nicht allzu viele Beispiele erhalten haben). In distinguierter Gesellschaft aufgetischt, dürfte das Prunkgeschirr die politische Tugend strategisch durchdachter Konfliktlösung angemahnt haben – stimmte das Ergebnis, war das angewandte Mittel intriganter Täuschung immer schon akzeptiert.

LOS CARPINTEROS, ESPUMA CÚBICA CUATRO

Die zweite Phase des deutschen Expressionismus mit seinen Zukunftsvisionen materialisierte sich in der Architektur zuerst im sogenannten Backsteinexpressionismus. Beeindruckende Beispiele hierfür sind das Chilehaus in Hamburg, 1922/24 von Fritz Höger, das Revolutionsdenkmal in Berlin, 1926 von Mies van der Rohe, und das Haus Atlantis in Bremen, 1930/31 von Bernhard Hoetger – visionäre Ziegelstein-Architekturen für eine neue Gesellschaft aus einem leicht verfügbaren und zu bearbeitenden Material, dessen Geschichte weit vor die deutsche Backsteingotik zurückreicht.
Genau an diesem Punkt setzt das großformatige zweiteilige Aquarell Espuma Cúbica cuatro, 2016, des in Madrid arbeitenden kubanischen Künstlerduos Los Carpinteros an. Beeindruckend ist nicht allein die Größe des Motivs, sondern auch, dass diese aquarellierte architektonische Vision trotz der wuchtigen Masse schwerelos im grenzenlosen Nichts wie eine Fata Morgana zu schweben scheint und damit par excellence die Idee eines Traumgebildes befördert. 

Das Diptychon wurde genauso wie die dazugehörigen Modellarchitekturen aus Ziegelstein für eine Einzelausstellung in der Berliner Galerie KOW geschaffen. Das international bekannte und renommierte Künstlerduo greift hier wie auch in anderen Ausstellungsprojekten auf eine lokale Tradition zurück und bindet das Werk in einen größeren kulturellen Kontext ein. Der Ziegel ist bei ihnen nicht mehr nur das Material der deutschen Gotik und der Moderne zwischen den Weltkriegen, vielmehr betrachten sie ihn als einen Gesandten einer kulturellen Errungenschaft, die sich weltweit durch alle zukunftsorientierten Kulturen seit der Jungsteinzeit zieht. Seitdem die Menschen sesshaft geworden sind, wurde Ziegel für den Haus- und Städtebau verwendet – ein kultureller Quantensprung in der Entwicklung erster Hochkulturen. Eine Quintessenz, die das Aquarell wie ein plakatives Manifest erscheinen lässt.

Los Carpinteros, Espuma Cúbica cuatro, 2016, Aquarell, zweiteilig, je 1995 x 1140 mm, Courtesy KOW Berlin
Brian O’Doherty, Duchamp boxed, 1968, Elektrokardiographie, Karton, 30 x 100 x 55 mm, Courtesy Brian O’Doherty und Galerie Thomas Fischer
Hans von Marées, Studie zu „Hesperiden I“: Die beiden Männer (Zweite Fassung), 1885, Kohle und Kreide, 295 x 445 mm, unbefristete Leihgabe der Museumsstiftung zur Förderung der Staatlichen Museen in Bayern, Zustiftung Susanne Freund (aus dem Nachlass von Edith von Bonin)

Hans von Marées, Ideenskizze zu „Pferdeführer und Nymphe“, 1881, Rötel, 295 x 445 mm, unbefristete Leihgabe der Museumsstiftung zur Förderung der Staatlichen Museen in Bayern, Zustiftung Susanne Freund (aus dem Nachlass von Edith von Bonin)

HANS VON MARÉES, IDEENSKIZZE ZU "PFERDEFÜHER UND NYMPHE"

Beide Zeichnungen stammen aus dem Besitz der Künstlerin Edith von Bonin (1875–1970) und wurden von deren Nachfahren der SGSM gestiftet. Edith von Bonin entschied sich für die Malerei zu einer Zeit, da Frauen der Zugang zu den Akademien verwehrt war. Sie bekam ihre Ausbildung in freien Schulen und im Selbststudium. Ihr Aufenthalt in Paris, bei dem sie die Kunst von Henri Matisse kennen und schätzen lernte, ließ sie zu einer typischen Vertreterin, der frühen Moderne werden, die sich nicht weiter um die Abstraktion oder Gegenstandslosigkeit kümmerte. Ihre Bekanntschaft mit dem Dichter Rainer Maria Rilke brachte sie auch in Kontakt mit dem Kunstschriftsteller Julius Meier-Graefe, der ein erstes Verzeichnis der Werke von Hans von Marées erstellte. Über ihn dürfte sie die beiden Zeichnungen aus dem Nachlass erworben haben, die sie ihr Leben lang begleiteten, war der an einer idealen, der Antike und der Renaissance geschulten Kunst verbundene Deutsch-Römer doch ein wesensverwandter Kollege.

Hans von Marées, Pferdeführer in Landschaft, gegen 1881, Rötel, ca. 489 x 358 mm, Ankauf aus Mittel der Schenkung Hugo Reisinger, New York, 1913

HONORÉ DAUMIER, LE VENTRE LÉGISLATIF

Die Lithographie zählt neben der Darstellung des Massakers in der rue Transnonain, ebenfalls aus dem April 1834 (Delteil 135, Inv.-Nr. 1964:90 D), zu den berühmtesten politischen Karikaturen von Daumier. Während das Massaker die Grausamkeit der Truppen des Königs Louis-Philippe I. (1773–1850) im Einsatz gegen Zivilisten anklagt, stellt der „Gesetzgebende Bauch“ die Regierung selbst bloß. Louis-Philippe war als sogenannter „Bürgerkönig“ aus der Revolution von 1830 hervorgegangen, errichtete jedoch schnell wieder eine straffe Monarchie mit strenger Zensur. Seinen Gefolgsleuten wurde Korruption und Hang zur Selbstbereicherung vorgeworfen. Der „Ventre législatif“ stellt diese Ansammlung arrogant-abgehobener Abgeordneter bloß, die sich ihrer Macht und ihrer Privilegien voll bewusst und von den täglichen Problemen der Bürger, die sie repräsentieren, weit entfernt sind. Der Künstler schuf für die Portraits der Abgeordneten – alle können genau benannt werden – eigens kleine Tonskulpturen als Vorlagen für seine Zeichnungen her. Sie befinden sich heute im Besitz des Musée d’Orsay in Paris.

Die Karikatur wurde in keiner Zeitschrift publiziert, sondern war als separater Druck zu erwerben. Sie zählte schon seit Daumiers Zeiten zu den begehrtesten seiner Lithographien. In der hervorragenden Daumier-Sammlung der SGSM fehlte sie bislang und konnte nun mit Hilfe der Museumsstiftung zur Förderung der Staatlichen Museen in Bayern erworben.

Beschriftung auf Blatt (recto): Aspect des bancs ministériels de la chambre improstituée de 1834. [Ansicht der regierungstreuen Bänke der prostituierten (Wortspiel mit improvisiert / konstituiert / prostituiert) Kammer von 1834.]
Beschriftung in der Druckform: u. l.: Chez Aubert, galerie véro dodat.; u. r.: L.de Becquet, rue Furstemberg,6
Publiziert von L'Association Mensuelle, Januar 1834.

Honoré Daumier, Le ventre législatif, 1833, Kreidelithographie, 431 x 281 mm
Jacques de Gheyn III (Nachfolge), Allegorie auf das Schicksal der Malerei, Feder in Braun, 340 x 209 mm
Adam Elsheimer, Der in Armut verzweifelnde Künstler, um 1603/1605, Feder in Braun, 182 x 195 mm

2017

ISA GENZKEN, OHNE TITEL

Isa Genzken, Ohne Titel, sieben Serigraphien, um 1968, Acryl, teilweise Tape, über Siebdruck auf Papier, 610 x 430 mm, Staatliche Graphische Sammlung München, 5 Blätter als Dauerleihgabe von PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e. V., München, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Isa Genzkens unbetitelte Suite von sieben Siebdrucken von 1968 gehört zu den seltenen frühen graphischen Arbeiten in ihrem Werklauf. Gleichwohl die Blätter wiederholt in Ausstellungen zu sehen waren, wurden sie bisher nie zum Kauf angeboten und erst auf wiederholte Nachfrage der Staatlichen Graphischen Sammlung München offeriert. Eindeutig zählen sie zum Corpus graphischer Schlüsselwerke dieser international relevanten deutschen Künstlerin, deren großformatige Installationen in den letzten zwanzig Jahren die Grenzen der Materialästhetik fortlaufend neu abgesteckt haben.
Innerhalb der Sammlungsbestände der Graphischen Sammlung schließen die überarbeiteten Siebdrucke eine zentrale Lücke. Sie sind zuerst als eine Art »Reaktion« auf die amerikanische Kunst der 1960er und 1970er zu verstehen, die umfangreich in der Sammlung vertreten ist.

Zugleich sind sie ein Statement gegen das alles beherrschende europäische Informel – ein Reflex, der eine ganze Generation von jungen Künstlern in den späten 1960er und 1970er-Jahren umtrieb und seinen Niederschlag in neuen ästhetischen Formerfindungen fand. Schließlich nehmen die Blätter in der Ambivalenz ihrer ästhetischen Parameter vorrausschauend Tendenzen der aktuellen Gegenwartskunst vorweg. 
Aus heutiger Sicht sind sie als eine epochenübergreifende Setzung zu verstehen – begründet durch ihre hohe künstlerische Qualität – klassisch und zugleich aktuell neu. Insgesamt kann man der unbetitelten Suite von überarbeiteten Siebdrucken aus dem Jahr 1968 den Status eines singulären graphischen Hauptwerks der Künstlerin zusprechen. In ihrer Frische und Radikalität erscheinen sie so gegenwärtig wie die jüngsten Bilder, Reliefs und Installationen von Isa Genzken.

HERMANN GLÖCKNER

Rot über Schwarz und Blau, um 1932, Doppelseitige Tafel, Seite A, Collage, farbiges Papier, Pappkörper, 498 x 350, Erworben mit Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung München und S. K. H. Herzog Franz von Bayern, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Rechtwinklige Durchdringung: Zeichen F auf Schwarz, um 1932, Doppelseitige Tafel, Seite A, Geburtstagstafel für Frieda Glöckner, Tempera, Papier, Pappe, gelackt, 500 x 350 mm, Leihgabe der Ernst von Siemens Kunststiftung, München © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Rot über Schwarz und Blau

1930 entschied sich Glöckner, etwas Neues zu beginnen, um die konstruktiven, geometrischen Grundlagen seiner gegenständlichen Malerei zu untersuchen und ihre elementaren, komplexen Zusammenhänge zu finden. Dieser Ansatz führte zu einer umfangreichen, unikalen Werkgruppe, in der Glöckner fortan rein konstruktiv-abstrakt arbeitete. Die Tafel Rot über Schwarz und Blau, um 1932, zählt zu den frühen Hauptwerken aus Hermann Glöckners sogenanntem Tafelwerk. Mit ihm verwirklichte er seine Idee einer offenen Systematik zu Material- und Formfragen, ohne dass seine Analysen in Gesetzmäßigkeiten erstarren.
Innerhalb der Gruppe der frühen Tafeln, die von 1932–1935 entstanden ist, nimmt Rot über Schwarz und Blau mit einigen wenigen weiteren Tafeln aus dieser Zeit eine Sonderstellung ein, da Hermann Glöckner hier explizit eine künstlerische Idee gültig ausformuliert und sie in keiner der nachfolgenden Tafeln mehr aufgreift. Demgegenüber steht eine größere Gruppe von Tafeln, die andere Themen mehrfach variiert.
Rot über Schwarz und Blau zeichnet sich durch eine extrem intensive Durcharbeitung der beidseitigen Motive aus, die einander in wechselseitiger Bezugnahme konzeptuell durchdringen. Damals neu und geradezu spektakulär war es, dass Glöckner die Tafeln als körperhafte Objekte auffasste, in denen er die Malerei ins Dreidimensionale transformierte. »Vorder«- und »Rückseite«, die heute treffender im Sinne einer Gleichwertigkeit als A- und B-Seite verstanden werden, nehmen von Tafel zu Tafel vielfach aufeinander Bezug, sind zum Teil auch als Gegenentwürfe gedacht und eröffnen der plastischen Tafel eine zusätzliche Bedeutungsdimension. Die Neuerwerbung steht für dieses künstlerische Konzept paradigmatisch.
Noch immer gilt es, das Tafelwerk Hermann Glöckners zu entdecken. Zu seinen Lebzeiten sind nur wenige bedeutende Tafeln durch Vermittlung des Künstlers an einzelne deutsche und osteuropäische Museen verkauft worden, so dass die offene Serie bis zu seinem Tod annähernd komplett in seinem Besitz blieb. Umso glücklicher ist der Umstand zu bewerten, dass die frühe Haupt-Tafel Rot über Schwarz und Blau zu diesem Zeitpunkt für die Graphische Sammlung gesichert werden konnte.

Rechtwinklige Durchdringung: Zeichen F auf Schwarz, doppelseitig gearbeitete Tafel (Geburtstagstafel für Frieda Glöckner)

Die Tafeln Rechtwinklige Durchdringung: Zeichen F auf Schwarz sowie Rot über Schwarz und Blau, beide um 1932, zählen zu den Höhepunkten aus Glöckners Tafelwerk der frühen Jahre. Das Tafelwerk umfasst bis 1945 nach Christian Dittrichs Werkverzeichnis 154 Nummern und wächst zwischen 1945 und 1987 auf insgesamt 271 Eintragungen an.
Rechtwinklige Durchdringung: Zeichen F auf Schwarz zeichnet sich wie auch die oben genannte weitere Tafel durch eine intensive Durcharbeitung der beidseitigen Motive aus, die einander in wechselseitiger Bezugnahme konzeptuell durchdringen. Die intendierte Zusammengehörigkeit der beiden Tafelseiten, ihre für das Verständnis sogar notwendige Zusammenschau, ist bei der Tafel Rechtwinkelige Durchdringung: Zeichen F auf Schwarz besonders offensichtlich. Über diese formale Bedeutungsebene hinausgehend bringt die Verwendung der Monogramme »F« auf der A-Seite und »HG« auf der B-Seite eine sehr persönliche Komponente mit ein. Man kommt nicht umhin, diese Tafel als die vielleicht intimste des Werkkomplexes zu benennen: Vom Künstler selbst als ›Geburtstagstafel für Frieda‹ bezeichnet, nimmt sie direkten Bezug auf Hermann Glöckners Gattin und ist zudem ein Bekenntnis der engen Beziehung und Verbundenheit der Ehepartner.
Insbesondere die frühen Tafeln geben einen ästhetischen und konzeptuellen Schlüssel zu Glöckners späterem künstlerischem Gesamtwerk an die Hand und stehen im Besonderen für die hohe künstlerische Qualität einer programmatischen Variante innerhalb des deutschen Konstruktivismus zwischen den beiden Weltkriegen.
Zweifellos steht Glöckners Tafelwerk in seinem Rang der 1963 in Amerika publizierten ›Interaction of Colors‹ des vormaligen Bauhaus-Meisters Josef Albers in nichts nach. Obwohl es bereits Jahrzehnte vor Albers’ Untersuchung geschaffen wurde, ist seine Kenntnisnahme, Bewertung und Bedeutung im Kontext der Klassischen Moderne durch zwei deutsche Diktaturen verhindert worden und steht bis heute aus.

Max Beckmann, Selbstbildnis sitzend, mit gefalteten Händen, 1917, Feder in Schwarz, 317 x 239 mm, Leihgabe der Ernst von Siemens Kunststiftung, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

FRANZ ERHARD WALTHER, SONATE

SONATE gehört zu einer kleinen Gruppe von 64 erhaltenen Wortbildern, die Franz Erhard Walther zwischen 1957/58 als Student an der Werkkunstschule in Offenbach geschaffen hat. Lange Zeit vermisst, wurden sie erst nach intensiven Recherchen 1994 wiederentdeckt und stellen seitdem ein wichtiges Bindeglied zwischen seinen frühen zeichnerischen Untersuchungen zur Frage der Bildhaftigkeit und seinem späteren epochalen ›1. Werksatz‹ dar, welcher erst auf der Grundlage einer performativen Aneignung existiert und den Betrachter zum Akteur macht, ohne den das Kunstwerk nicht existiert.
Zeitlich wesentlich früher entstanden, stehen die Wortbilder Franz Erhard Walthers als Monumente künstlerischer Äußerung im Raum – noch bevor Minimal- und Concept Art Künstler sich »Sprache« als Ausgangspunkt für künstlerisch autonome Werke zu Nutze machten. Daneben greifen die Blätter die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung schwelende Krise zur Frage der Darstellbarkeit auf, was temporär das Verschwinden des Figürlichen in der Kunst nach sich zieht und sich in Walthers Werken dieser Zeit in einer ganz eigenen radikalen Form äußert.

Das Wortbild SONATE wird bei der Betrachtung zum synästhetischen Erlebnis. Franz Erhard Walther beschreibt es folgendermaßen: »Die ruhige breite Schrift auf ungrundiertem gutem Papier. Imagination instrumentaler Musikstücke.« Dieses Blatt ist geradezu programmatisch zu verstehen, klingt in ihm doch bereits an, was Franz Erhard Walther zukünftig künstlerisch umtreiben wird: Die Erweiterung des eingeengten Kunstbegriffs.
Welchen herausragenden Stellenwert SONATE im Kontext der internationalen Zeichenkunst einnimmt, wird mit einem Seitenblick auf die Biographie des Künstlers deutlich, die er 1972 für seinen ersten umfassenden Katalog verfasst: »Von 1957 bis 1964 Studium in Offenbach, Frankfurt und Düsseldorf. 1957 ‚Untersuchungen‘, 1958 ‚Künstler‘, 1959-60 Kunststücke in Frankfurt. 1961 in Frankfurt wegen des Versuchs der Änderung der Klassenstruktur an der Hochschule exmatrikuliert. 1962 Kunstakademie Düsseldorf (K. O. Götz). In dieser Zeit entwickelt sich das Benutzungsprinzip: Nichtbeendbarkeit des Werkes.«

Franz Erhard Walther, SONATE, 1958, Bleistift und Tempera, 395 x 596 mm, Staatliche Graphische Sammlung München, Dauerleihgabe von PIN. Freunde der Pinakothek der Moderne e. V., München, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

2016

GERT & UWE TOBIAS

Gert & Uwe Tobias, Ohne Titel (Münchner Vedute II) / Untitled (Munich Veduta II), 2016, Holzschnitt (auf Leinwand, schwarz grundiert), Blattmaß: 2.000 x 1.680 mm, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 - Ohne Titel (Münchner Grisaille I) / Untitled (Munich Grisaille I), 2016, Holzschnitt (auf Leinwand), Blattmaß: 2.000 x 1.680 mm, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 - Ohne Titel / Untitled, 2016, Holzschnitt (auf Leinwand), Blattmaß: 2.000 x 1.680 mm, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Überbordende Fantasie, subtile Leichtigkeit und humorvolle Gedankentiefe zeichnen die großformatigen Holzschnitte von Gert & Uwe Tobias aus. Das Künstlerduo zählt seit mehr als einer Dekade international zu den bekanntesten deutschen Druckgrafikern, die mit ihren Bildwelten in der Gegenwartskunst beständig für Aufsehen sorgen. Bis heute hat ihre unnachahmliche Handschrift, die in bisher nie dagewesener Form die Grenzen zwischen »high and low« in der zeitgenössischen Kunst verwischt, an Radikalität und Konsequenz nichts eingebüßt.
Auch ihre jüngste Werkgruppe ›GRISAILLE‹ hält, was der Ruf der Künstler verspricht. In ›GRISAILLE‹ entdecken Gert & Uwe Tobias die jahrhundertealte Technik der »Grau-in-Grau Malerei« neu und loten sie immer wieder anders auf unkonventionelle Weise aus.
Grau nimmt auf ganzer Linie unter den Farben eine Sonderstellung ein. Es zu beherrschen, setzt ein hohes Maß an Souveränität und die genaue Kenntnis der eigenen malerischen Mittel voraus. Es ist kein Zufall, dass die Tobiasbrüder auf dem Höhepunkt ihres subtilen Farbempfindens mit dem Mut zum Risiko sich dieser neuen Herausforderung stellen. 

Die Serie ›GRISAILLE‹ bedeutet für sie zugleich ein Moment des Innehaltens im Werklauf und es wird sich zeigen, dass mit dem Rückzug der Farbe aus ihren Bildwelten motivische wie konzeptuelle Aspekte in neuer Form eins werden.
Das Zentrum ihrer Recherche in Grau bildet eine Suite großformatiger ›Fensterbilder‹, in denen die Künstler komplexe Raumdarstellungen und Perspektivwechsel im per se flächig gedachten Holzschnitt schöpferisch und geistvoll neu erproben.
Die fantastischen Bilderfindungen gewinnen im Zwielicht der im Werk der Tobiasbrüder bislang unbekannten Monochromie nicht nur an Vieldeutigkeit, sondern erschließen ein von dieser Seite her noch nicht betretenes magisches Schattenreich.
Mit der kuratorischen Idee, für die Ausstellung ›Gert & Uwe Tobias GRISAILLE‹ einen Werkkomplex eigens für die Graphische Sammlung zu schaffen, setzt unser traditionsreiches Haus sein großes Engagement für die zeitgenössische Kunst nicht nur konsequent fort, sondern beschreitet mit Verve zugleich neue, bislang kaum erkundete Wege in die künstlerische Gegenwart des 21. Jahrhunderts.

Théodore Géricault, Le Factionnaire Suisse au Louvre, 1819, Lithographie, 438 x 341 mm, unbefristete Leihgabe der Vereinigung der Freunde der SGSM, erworben 2016 aus dem Kunsthandel, München

STUDIEN UND SKIZZEN FLORENTINER MALER DES HOCHS- UND SPÄTBAROCK

Florenz ist gleichsam Synonym für das Quattrocento, für den Humanismus und das klassische Maß. Den Florentiner Künstlern waren manieristische Steigerungen so wesensfremd wie barockes Pathos. Umso mehr entwickelte sich in Florenz eine eigene Spielart des Barock. Sie hält sich nah an die Naturbeobachtung und pflegte besonders das Porträt. In religiösen Bildern wurde auf Visionäres gern verzichtet und wurden überirdische Wunder lieber in eine Sphäre des Möglichen verlegt.

Die Staatliche Graphische Sammlung München besitzt einen respektablen Bestand an Blättern des Florentiner Frühbarock von Ludovico Cigoli und Andrea Boscoli über Cecco Braco und Jacopo Confortini bis zu Baldassare Franceschini. Im Jahr 2016 konnte dieser Werkblock durch eine Gruppe von Zeichnungen der Künstlerfamilie Dandini abgerundet und um Signifikantes erweitert werden.
Die Reihe der neu erworbenen Kopf- und Körperstudien von Cesare und Vincenzo Dandini führt die Ergründung der sichtbaren Wirklichkeit exemplarisch vor Augen.

Cesare Dandini, Arm- und Kopfstudie zu einem Johannesknaben, 1650-1655, Rötel auf Bütten, 183 x 131 mm
Vincenzo Dandini, Studie zum Kopf eines Puttos, sowie zu Beinchen und Gesäßpartie, um 1672, Schwarze Kreide, 252 x 214 mm
Ottaviano Dandini, Entwurf für ein Deckenbild für einen Engelssturz (?), Schwarzer Stift, 275 x 203 mm

Die Blätter Cesares sind in Rötel ausgeführt und fanden in Altarbildern für einen Jesus- oder Johannesknaben Verwendung. In den Arbeiten Vincenzos geht die Naturbeobachtung gleitend über in eine Aufbereitung der Motive für das zu malende Bild: Durch farbige Grundierung sind die Studien der Malerei angenähert und zeigen die Verwandlung von Kindern in fliegende Putti. Ottavianos schon einer späteren Epoche angehörende Skizze zu einem Engelssturz zielt im Furor der prima idea auf die Veranschaulichung der Gesamtbewegung im Bild.

Jacopo Confortini, Studien zu einem Diener, Rötel, 275 x 210 mm

Die Münchner Dandini-Gruppe stammt aus einem ursprünglich rund 5.000 Blatt umfassenden Konvolut. Es wurde im 18. Jahrhundert von einem Nachkommen der Familie dem Großherzog von Toskana angeboten, dann aber verstreut. Heute werden Teile daraus in vielen der führenden Kabinette der Welt aufbewahrt.

PHILIPP OTTO RUNGE, MÄNNLICHER AKT VON DER SEITE

Der Hamburger Künstler Philipp Otto Runge (1777–1810) studierte von 1799 bis 1801 an der Kopenhagener Kunstakademie. Aus dieser Zeit sind zahlreiche Aktstudien und Studien nach antiken Skulpturen erhalten, in denen er in damals üblicher Weise die Grundlagen der Anatomie und der Darstellung eines Körpers im Raum lernte. Im Männlichen Akt von der Seite setzte er mit perfekter Sicherheit die zarten Konturlinien als Vorzeichnung, um anschließend mit der weichen Kreide schraffierend die Körperlichkeit des Aktes herauszuarbeiten. Dabei wird ein Teil der Konturen nicht mehr als Linie, sondern als Gegensatz von heller und dunkler Fläche gesetzt. Die komplexe Ansicht, des durch seine Haltung verrätselten Körpers, spielt so mit dem Gegensatz von Linie, Volumen und Fläche. Die Kraft des durchtrainierten Körpers, dessen ruhende Haltung und die zurückgezogene Geborgenheit des Dargestellten stehen damit ebenfalls in einem spannungsvollen Verhältnis. 
In dieser ungewöhnlichen Sicht auf den Körper weist das Blatt weit über die üblichen Aktstudien ihrer Entstehungszeit und die sonstigen Aktstudien Runges hinaus. In der Verbindung von verschlungener Konturlinie, Fläche und Raum ist der angehende Künstler bereits bei dem Thema seiner berühmten Gemälde, in denen es ihm unter anderem um eine neue, romantische Arabeske ging.
Die Zeichnung stammt aus dem Nachlass des Münchner Kunsthändlers Günther Franke (1900–1976), der in den 1930er Jahren mit Zeichnungen der deutschen Romantik gehandelt hatte, aber eigentlich ein Protagonist der Moderne war. Sein Interesse an der Kunst eines Ernst Barlach oder Max Beckmann bewog ihn sicherlich, diese ebenso skulptural, wie modern wirkende Aktstudie zeitlebens bei sich zu bewahren.

Philipp Otto Runge, Männlicher Akt von der Seite, 1800, schwarze und weiße Kreide, 570 x 460 mm, erworben durch die Vereinigung der Freunde der SGSM e. V.

WILHELM VON KOBELL, DIE SCHLACHT VON BRIENNE, 1816

Wilhelm von Kobell, Die Schlacht von Brienne am 2. Februar 1814, 1816, Feder in Schwarz über Bleistift, Aquarell, 584 x 898 mm, Schenkung Dr. Wilhelm Winterstein an die Vereinigung der Freunde der Staatlichen Graphischen Sammlung München e.V.

In vier großformatigen Aquarellen stellte der bayerische Hofmaler Wilhelm von Kobell (1766–1853) Szenen aus dem Befreiungskrieg gegen Napoleon 1813/15 dar. Sie befanden sich fast 200 Jahre in Familienbesitz und waren der Kunstwissenschaft bislang nicht bekannt. Wahrscheinlich waren sie im Auftrag von Fürst Karl Thomas zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg (1783–1849) entstanden, der im österreichischen Teil der Armee des Fürsten von Schwarzenberg gegen die Napoleonische Armee gekämpft hatte. Zumindest eines der Aquarelle war 1825 im Münchner Kunstverein letztmals öffentlich zu sehen und alle vier stammen aus dem Besitz seiner Nachfahren. Die Aquarelle stehen in direktem Zusammenhang mit dem Zyklus der Schlachtengemälde im Besitz der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, dürften jedoch nicht als Vorstudien anzusehen sein.

Wilhelm von Kobell, Entwurf für das Aquarell "Die Schlachte bei Brienne am 2. Februar 1814", 1816, Bleistift und Feder in Schwarz, 305 - 380 x 888 mm (unregelmäßig)

Kobells Gemälde zur Schlacht bei Brienne (eigentlich: Schlacht bei La Rothière) aus dem Bestand der Neuen Pinakothek ist seit 1919 verschollen und in keiner Abbildung dokumentiert, so dass das Aquarell nun Auskunft darüber geben kann. Entgegen den Berichten zeigt Kobell keinen Schneesturm, aber eine tiefwinterliche Landschaft. Da das hier vorgestellte Aquarell bislang unbekannt war, konnte eine fast gleichgroße vorbereitende Zeichnung aus dem Bestand der Staatlichen Graphischen Sammlung München erst jetzt diesem Sujet zugeordnet werden. Durch die Schenkung der vier Aquarelle mit Schlachtenbildern wurde der Bestand der Sammlung wesentlich erweitert.