Neuerwerbungen
2020

Jackson Pollock, Ohne Titel
Wenngleich die unbetitelte Tuschfederzeichnung Jackson Pollocks von 1945 noch vor dem epochalen Traditionsbruch mit der abendländischen Malerei und Zeichnungskunst entstanden ist, spiegelt sie dennoch die direkte Auseinandersetzung mit der europäischen Avantgardekunst vor dem Zweiten Weltkrieg wider, die für die Entstehung des amerikanischen ›Abstract Expressionism‹ unabdingbar war.
Frei schwebend sind in den Bildraum zwei biomorph-figurative Abbreviaturen verspannt. Einen freien Fluss der Tuschfeder suggerierend, fügen sich die Linien geradezu traumwandlerisch zu Körperformen zusammen. Sie zeichnen zwei sich zugewandte Figuren nach, die tänzelnd umeinander schweben. Einzelne vermeintlich zufällig gesetzte Farbtropfen, zu flüchtigen Flecken verwischt, scheinen den unbewussten schnellen Fluss der zeichnerischen Linie zu bestätigen. Es ist die Mondsichel rechts unten im Bild, die den Tanz der Windsbräute verortet und die »Kritzelei« als subtil ausgewogene Komposition entlarvt.
Nicht von ungefähr erinnert Pollocks Zeichnungskunst in diesem Meisterblatt an die Technik der ›écriture automatique‹ und an die Motive der ›cadavre exquis‹ der französischen Surrealisten. Künstlerisch an erster Stelle wäre hier ihr Wortführer André Breton als Referenz zu nennen. Zugleich scheinen die verwischten Tuschfedertropfen Max Ernsts frühe ›Drippings‹ zu zitieren, wie auch in dem in die Fläche verspannten Motiv Marcel Duchamps erste polyfokale all-over Inszenierung in der Ausstellung ›First Papers of Surrealism‹ in New York 1942 nachklingt – ein Stilmittel, das später zum Markenzeichen der Pollockschen Malerei und Zeichnung werden sollte. Die genannten Künstler lebten damals als Exilanten in Amerika und machten mit ihrem Werk Eindruck auf die jungen amerikanischen Künstler und so wohl auch auf Jackson Pollock.
2019

52 Zeichnungen von K. H. HÖDICKE
Karl Horst Hödickes zeichnerischer Werklauf umfasst einen Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten. Auch wenn er seinem malerischen Œuvre qualitativ in nichts nachsteht, so ist seine Vielfalt nahezu unbekannt, denn bis heute steht der Maler und nicht der Zeichner im Zentrum der Aufmerksamkeit und Wertschätzung.
Auch wenn K. H. Hödicke zu jeder Zeit das kleine Format der Studienblätter schätzt, so nehmen die frühen ›DIN-A4-Zeichnungen‹ eine Sonderstellung ein. Ihre Bildideen erscheinen wie ein kunstkritisches Tagebuch dieses Jahrzehnts. In der Zusammenschau muss man sie als lakonische Randnotizen eines jungen scharfsinnigen Künstlers betrachten, der mit spielerischer Leichtigkeit die aktuellen künstlerischen Strömungen der Zeit kritisch in den Blick nimmt, die vom erkalteten Tachismus über die verkopfte Konzeptkunst bis hin zur spielerischen Pop-Art und zum subversiven Kapitalistischen Realismus reichen.
Für ein besseres Verständnis der ›DIN-A4-Zeichnungen‹ ist es hilfreich, sich den Zeitraum ihrer Entstehung – die zweite Hälfte der 1960er-Jahre – in Erinnerung zu rufen. 1966/67 verbringt K. H. Hödicke einen einjährigen Arbeitsaufenthalt in New York, an den sich ein exklusiver Studienaufenthalt in Rom in der Villa Massimo im Jahr 1968 anschließt. Wie viele andere junge deutsche Künstler auch nutzt Hödicke die vielversprechende Gelegenheit, aus der geistigen Enge der deutschen Nachkriegsgesellschaft auszubrechen. Ganz im Kontrast zum fiebrigen New Yorker Lebensgefühl hat er durch ein komfortables Stipendium in der Ewigen Stadt anschließend die Gelegenheit, die klassische römische Antike und lebendige italienische Kultur künstlerisch inspirierend hautnah zu erleben. Impressionen, die er für seine Arbeit gewinnbringend nutzt.
In den ›DIN-A4-Zeichnungen‹ dieser Zeit schlagen sich einzelne Gedankenblitze nieder, die über das Kleinformat nicht hinauswachsen und konzeptuelle Ideen bleiben. Beispielsweise kommentiert Hödicke auf seinen zeichnerischen Notizen treffsicher die deutsche Kleinbürgerlichkeit oder die Wirtschaftswunderwelt der Nachkriegsära. So zerteilt er die in hoffnungsvolles Grün getauchte Sinnfrage des Lebens in zwei fliegende Papierschnipsel, die sich eher zufällig auf dem Blatt zu einer unentschiedenen Ordnung zusammenfinden, die für sich spricht (der Sinn des Lebens). Oder die nachträglich von ihm als handkoloriert bezeichnete Visitenkarte von ›Blumen Exclusiv‹ verliert durch ihre farbliche Ausstaffierung mehr, als dass sie gewinnt, und die vermeintliche Exklusivität kommt als rosenrote Biedermeierlichkeit daher (Entwurf).
Rückblickend resümiert Hödicke für seine kleinformatigen Skizzenblätter: »Mag sein, dass die ›DIN-A4-Zeichnungen‹ einen lakonischen, subtilen Humor haben. Vielleicht war es eine gute Zeit für ›DIN-A4-Zeichnungen‹ – und ich kontinuierlich gut drauf?!«
KIKI SMITH, SCHENKUNG IHRES DRUCKGRAPHISCHEN WERKS
Laut Schenkungsvertrag von 2014 lässt Kiki Smith (*1954) ihr gesamtes in Auflage erschienenes druckgraphisches Œuvre der Graphischen Sammlung zukommen. Bis jetzt sind dies 254 Nummern, Inv.-Nr. 2015:284 D bis 2015:392 D, 2016:16 D bis 2016:94 D, 2018:3 D bis 2018:63 D, 2018:66 D bis 2018:69 D, 2018:76 D bis 2018:82 D. Die 254 Nummern wiederum umfassen 196 Einzelblätter, 43 mehrteilige Arbeiten, Serien und Mappenwerke (mit 252 Drucken) sowie 13 Künstlerbücher (mit 434 Drucken). Schlüsselt man diese in ihre Einzeldrucke auf, ergibt sich eine Gesamtzahl von 882. Weltweit ist damit die Graphische Sammlung die einzige öffentliche Institution, in der das publizierte druckgraphische Werk von Kiki Smith so umfassend vertreten ist. – Literatur: Ausst.-Kat. Touch. Prints by Kiki Smith (München, Staatliche Graphische Sammlung), hg. von Michael Hering und Birgitta Heid, Köln/München 2019. – Der Catalogue Raisonné zu der Schenkung erscheint in der Online Datenbank der Staatlichen Graphischen Sammlung.
Zentrales Thema im Werk von Kiki Smith ist die Frage nach dem Dasein des Menschen. Parallel zu richtungsweisenden Künstlern wie Nancy Spero oder Félix González-Torres begann sie, in ihrem Frühwerk der 1980er-Jahre den menschlichen Körper zunächst in der Form von Fragmenten zu thematisieren (z. B. ›How I know I’m Here‹; vierteiliger Druck, Linoleumreliefdruck; je Blatt ca. 295 x 1100 mm; Inv.-Nr. 2016:29-01-04 D. – ›Untitled (Kidneys)‹, 1995; Kartoffeldruck mit Blattgold; 498 x 780 mm; Inv.-Nr. 2015:291 D). Zeitaktuelle politische Fragen, wie der Umgang mit AIDS oder die Emanzipation, fanden in ihren Werken Resonanz. Seit 1992 wendet sie sich auch dem Tier als Begleiter des Menschen zu (z. B. ›Ginzer and the Birds‹, 1996; Lithographie, Collage; 446 x 528 mm; Inv.-Nr. 2015:293 D). Gleichzeitig begann sie, in biblischen Geschichten und seit 1999 auch in Märchen die wechselvolle Existenz des Menschen zu ergründen (z. B. ›Blue Prints: Virgin Mary‹, 1999; Radierung; 277 x 204 mm Platte, 511 x 409 mm Blatt; Inv.-Nr. 2015:331 D. – ›Pool of the Tears II‹; Radierung, Aquatinta und Kaltnadel; 1209 x 1821 mm Platte, 1295 x 1899 mm Blatt; Inv.-Nr. 2016:30 D). Seit Ende der 1990er-Jahre spürt sie zudem der Verbindung des Menschen zu Natur und Kosmos nach (z. B. ›Tidal‹, Künstlerbuch, Akkordeonfaltbuch mit Fotogravüre; Offsetlithographie und Siebdruck in einer handgefertigten leinengebundenen Schachtel; Buch geöffnet 489 x 3207 mm; Inv.-Nr. 2016:26 D).
Viele ihrer Sujets finden in der Druckgraphik ihren Ausgangspunkt, um anschließend in Skulptur, Glaskunst, Tapisserie und andere Medien übersetzt zu werden. Seit Beginn ihrer Karriere experimentiert Kiki Smith mit druckgraphischen Techniken auf vielfältigste Weise, ergründet in Kooperation mit Druckwerkstätten und Verlegern immer wieder neue Wege und kommt dabei zu einer Material- und Technikvielfalt, wie sie nur wenige Künstler beherrschen.
Die Arbeit ›Untitled (Hair)‹, 1990 (Lithographie auf Mitsumata handmade Japanese paper; 916 x 916 mm; Inv.-Nr. 2016:16 D) kennzeichnet das Anliegen der Künstlerin, die Sensualität menschlicher Körperteile wiederzugeben. Sie hegte damals den Wunsch, ein Kunstwerk zu schaffen, mit dem sie die Oberfläche des menschlichen Körpers gleichsam in die Fläche ausbreiten konnte. Auf dem großen quadratischen Blatt verteilt sich über die gesamte Fläche eine Fülle an Haaren, die im ersten Moment an das ausgebreitete, abgezogene Fell eines Tieres erinnert. Bei näherer Betrachtung erkennt man jedoch in den oberen Ecken die Abdrücke je einer Gesichtshälfte; in der rechten unteren Ecke ist der Abdruck eines Nackens zu sehen. Der Druck zeigt die Abwicklung des Kopfes der Künstlerin mit der ihr charakteristischen Haarmähne in der Mitte. Die Oberfläche ihrer Epidermis ist im wörtlichen Sinne auf das Blatt gebracht. Als Vorläufer können Jasper Johns’ vier Zeichnungen ›Study for Skin‹ (1962) gesehen werden, in denen der Künstler seinen Kopf auf dem Papier so abrollte, dass Spuren des Gesichts zurückblieben; dies griff er in der bei Universal Limited Art Editions (ULEA) ausgeführten Lithographie ›Skin with O’Hara Poem‹ (1963–1965) wieder auf. Der lang verfolgte Wunsch von Kiki Smith, den Körper aufgefaltet in einer 360-Grad-Darstellung zu zeigen, gelingt ihr schließlich mit ›My Blue Lake‹, 1995 (Photogravüre, à la poupée eingefärbt und Lithographie auf En Tout Cas paper; 853 x 1162 mm Platte, 1110 x 1391 mm Blatt; Inv.-Nr.: 2018:47 D).

FRIEDRICH SUSTRIS, ENTWURF FÜR EINE FASSADENDEKORATION MIT DREI BRUNNEN

Friedrich Sustris erhielt seine Prägung in Florenz, insbesondere im Atelier von Giorgio Vasari. Von 1563 bis 1567 arbeitete er dort als Gehilfe an der Innengestaltung des Palazzo Vecchio, am Katafalk des 1564 verstorbenen Michelangelo, lieferte Entwürfe für die Gobelinmanufaktur des Cosimo de’ Medici, wurde Mitglied der Accademia del disegno. Spätestens seit 1568 war Sustris nördlich der Alpen tätig, bis 1573 in Augsburg, wo er Dekorationen im Wohnhaus Hans Fuggers realisierte. Danach wechselte er an den Münchner Hof. Drei Jahre lang arbeitete er für die Burg Trausnitz über Landshut, um 1580 nach München berufen zu werden; dort bekam er die Leitung aller wichtigen künstlerischen Projekte übertragen.
Dass sich Sustris mehr und mehr auf’s Zeichnen verlegt hat, rührt von den immer umfangreicher werdenden Verantwortlichkeitsbereichen des, wie er oft bezeichnet wird, »General-Intendanten« der bayerischen Hofkunst. Er lieferte Entwürfe für Skulpturen, gegossene Bildwerke, Kirchengerät, kunsthandwerkliche Arbeiten jeder Couleur, Gemälde, Tapisserien, Möbel und vieles andere, selbst die Anlage von Gärten oblag seinen Anweisungen. Nach Florentiner Vorbild war Sustris verantwortlich für ein Gesamtbild aller bildkünstlerischer Leistungen. Hinzu kommen architektonische Aufgaben, vom Ausbau des Antiquariums und des Grottenhofs der Residenz bis hin zur Planung der Jesuitenkirche St. Michael, seinem baukünstlerischen Hauptwerk. Dass Sustris viel gezeichnet hat, lässt sich sogar statistisch durch das »Einnahmen- und Ausgabenbuch« des Hofs belegen. Sustris werden immer wieder große Mengen Papier ausgehändigt, etwa um »Visier zu machen«, »die Portal und anders auf zu reißen«, »zu mehrlei Model zu machen«. Wie man einen großen Betrieb leitet, hatte er bei Vasari gesehen. Den Mitarbeiterstab dirigierte er mittels seiner als Imperative zu verstehenden Zeichnungen.
Charakteristisch für Sustris’ Risse ist eine stets gültige Ausformulierung, bei der in kontrolliertem Arbeitsvorgang Feder und Lavierung dominieren. Pentimenti, Experimente während des Zeichnens oder nachträgliches Umarbeiten finden sich kaum jemals. Sustris’ Visierungen zeigen sich vielmehr in blitzblanker Perfektion. Insbesondere der Kontur und die klar durchgezogene Linie bestimmen den Charakter seiner Blätter. Auffällig ist ein offensichtliches Tabu: Sustris scheut die Schraffur; Dunkeleffekte, Tiefe, Räumlichkeit werden ausschließlich mit dem virtuos beherrschten Lavierpinsel erzielt. Parallel- oder Kreuzschraffuren, ein althergebrachtes Hilfsmittel gerade der deutschen Zeichenkunst, wird konsequent gemieden. Das erzielte Klangbild ist dementsprechend klar, durchhörbar, luzide: Sustris, »die bedeutendste Figur des Spätmanierismus höfischer Prägung in Deutschland«, ist »einer der großen Zeichner seiner Epoche« (Heinrich Geissler).
Der als »Italienisch. 17. Jh.« im Kunsthandel neu aufgetauchte kleinformatige Entwurf zeigt eine Fassade, die von Pilastern in drei hochrechteckige Felder unterteilt wird. In die Felder sind halbrund Nischen eingelassen, die Schalenbrunnen aufnehmen. Zentral umfängt eine Konche einen Springbrunnen; die Halbkuppel gibt den formal perfekten Hintergrund für die emporgepumpten, in Bögen herabrieselnden Fontänen. Die flankierenden kleineren Nischen schließen nach oben horizontal ab; raffiniert ist die Konchenform durch darüber eingebaute halbrunde Muschelnischen wiederholt, um zugleich die Möglichkeit zu schaffen, antikisch wirkende Büsten einstellen zu können. Abgeschlossen wird der mannigfach von streng vertikalen und horizontalen architektonischen Elementen gestaltete Wandaufriss durch ein Gesims, das zentral ein seitlich von Vasen begleitetes Wappen bekrönt. Verwandt ist das Blatt einem Entwurf in der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart (Inv.-Nr. 123), der, ausgewiesen durch das Wappen, ein pompöses Brunnenprojet im Wohnhaus Hans Fuggers vorbereitet hat. Auch im vorliegenden, in der charakteristisch snobistischen Kühle gehaltenen Entwurf sind die Geraden scharf mit dem Lineal gezogen; über diesem Raster verteilt die flinke Feder aus dem Handgelenk hingeworfene Aperçus. Auch hier ist das Wappen geviert, freilich sind die Felder noch nicht belegt. Es könnte sich um das Fuggersche Wappen handeln, jedoch auch um das der Herzöge von Bayern. Beim zentralen Brunnen wurde die Basis des Beckens durchgestrichen. Dies mag dafürsprechen, dass es sich um einen Entwurf handelt, der dem Auftraggeber vorgelegt worden war und in diesem Detail abgewandelt werden sollte.

PAUL KLEE, EIN KRANKER MACHT PLÄNE
Paul Klees Bleistiftzeichnung Ein Kranker macht Pläne von 1939 zählt zu den zeichnerischen Meisterblättern aus dem Spätwerk des Künstlers. Mit wenigen Strichen bringt Klee sein Können auf den Punkt. Bis heute befand sich das Blatt im Besitz der Erben Paul Klees, gleichwohl es immer wieder in wichtigen Ausstellungen zum Werk des Künstlers zu sehen war. Auch in der Literatur über das Spätwerk Klees nimmt es eine Schlüsselrolle ein.
Mit dem für ihn bekannten feinen Humor und seiner Lust zur Parodie konstatiert Paul Klee in den mit asketischer Enthaltsamkeit gesetzten Linien fraglos seinen eigenen Krankenstand. Die Bettstatt mit ihren runden Höhen und spitzen Tiefen assoziiert von Ferne eine Fieberkurve und entwickelt unter dem auf eine Linie reduzierten Körper ein beunruhigendes Eigenleben. Am Himmel scheinen sinnlich-amorphe Wolkenkissen zum Greifen nahe. Aber die Hände an den vom Körper abgelösten Armen fassen ungesteuert ins Leere. Schicksalhaft balanciert der Kranke eine Kugel auf seiner Stirn, möglicherweise ein Gradmesser seiner Befindlichkeit. Vielleicht tritt sie schon im nächsten Augenblick eine Talfahrt an. Oder handelt es sich bei der »Kugel« um einen HNO-Spiegel, den der Arzt auf der Stirn trägt und der dem Kranken selbst schon wie ein Menetekel auf dem Kopf sitzt?
Mit dem Erwerb dieser berührenden und einfühlsamen und dabei hoch bedeutenden Zeichnung Paul Klees konnte eine empfindliche Lücke im Bereich des Spätwerks dieses Ausnahmekünstlers in der Graphischen Sammlung geschlossen werden.
GIOVANNI BATTISTA TIEPOLO, KOPF EINES MANNES MIT KAPPE, 1750
Markante Züge, ein volles Kinn und weich geschwungene Lippen unter kräftiger Nase charakterisieren das Profil. Eine Kappe rührt im Nacken an den Mantelkragen und ist tief über die Stirn gezogen, so dass sie die Augen verschattet. Wohlig in festes Tuch gehüllt, ist der Mann ganz bei sich und gönnt uns keinen Blick. Die Gesichtszüge verlieh ihm der Zeichner wie im Vorbeigehen: Teils locker dahinzuckende, teils schärfer akzentuierende Striche in Rötel auf blaugrünem Papier verschummern nur hie und da zu dichteren Schattenzonen in warmem Rot. Über diese Andeutungen huschen samtige Lichter, die nur im Bereich des Kragens und auf der Kappe ein wenig dichter gestreut sind.
Giovanni Battista Tiepolo (Venedig 1696 – 1770 Madrid) gelang es mit traumwandlerischer Sicherheit in wenigen Augenblicken eine Persönlichkeit zu erschaffen, von der wir zwar nicht wissen wer sie ist, die sich aber in unsere Auffassung einprägt wie lebendig. Der Künstler löst sich in dieser Momentaufnahme von traditionellen künstlerischen Bindungen und betritt Neuland, auf dem das Individuum seine Würde einfordert und sich der Realismus des 19. Jahrhunderts anzukündigen beginnt.
Entstanden ist die Zeichnung nach aller Wahrscheinlichkeit auf der Reise von Venedig nach Würzburg im November/Dezember 1750. Dies legt die alpenländische Kopfbedeckung nahe, die in Abwandlungen auch in anderen Blättern Tiepolos begegnet, die um die gleiche Zeit datiert werden. In der Graphischen Sammlung reiht sich die Arbeit auf schönste Weise an venezianische Bildnisse in breit zeichnenden Stiften wie Tintorettos berühmte Münchner Studie zum Kopf des sogenannten Vitellius (Abb.) aus der Sammlung Kurfürst Carl Theodors.

2018
Anne Imhof, Drei Skizzenblätter zur Performance FAUST

Anne Imhofs künstlerischer Beitrag für den deutschen Pavillon zur 57. Biennale fügt dem Verständnis von Glas als Werk- und Baustoff für das 21. Jahrhundert einen bislang kaum gesehenen neuen Aspekt hinzu.
Imhof hat den durch die Nationalsozialisten 1938 umgebauten Pavillon mit einer gläsernen Architektur überformt. Im Außenbereich trennten verzinkte mannshohe Zäune und Glaswände den deutschen Pavillon von der offenen Gartenlandschaft ab. Der Grenzziehung verliehen zwei lauthals bellende Dobermänner Nachdruck, die jenseits der Zäune patrouillierten. Im Gebäudeinneren setzten sich die Grenzziehungen fort. Perfekt bemaßte und solide gebaute Glaswände zertrennten teilweise die Durchgänge, gläserne Wandpulte bildeten bizarre Aussichtsplattformen für die Akteure der Performance ›Faust‹ und ein eingezogener Glasboden teilte den Raum in eine Ober- und Unterwelt. Die gläserne Hülle wurde zu einer neuartigen Demonstration von Macht – Glas trennt in Imhofs architektonischer Interpretation unüberbrückbar ab, schließt aus oder ein. Die Frage, wer aus- oder eingeschlossen wird, wer dazu gehört und wer nicht, bleibt zunächst offen. Eine Antwort darauf mag in Imhofs Performance ›Faust‹ zu suchen sein, die die Räume mit neuem Leben füllte. Der »neue Mensch«, der mit der Architektur in den Pavillon Einzug hält, trat in Gestalt junger Akteure auf, die sich, so scheint es, als Einzige frei zwischen den Raumebenen und gläsernen Mauern bewegen konnten.
Erste Gedanken für die Biennale-Performance ›Faust‹ notierte Anne Imhof in zarten Bleistiftskizzen. Sie zielen nicht auf die Architektur, sondern auf die Gesichter und die Körpersprache der Akteure. Mehrfach taucht in den Blättern die Beischrift »Glas« auf, mit der sie Gesichtsmasken und einzelne Körperaccessoires bezeichnet. Die Blätter legen nahe, dass die gläserne Unnahbarkeit der Architektur zuerst auf den Körpern und Gesichtern der jungen Menschen sichtbar werden sollte. In der eigentlichen Performance wird diese Regieanweisung zum Programm. Analog zur äußeren Gefühlskälte der Architektur erscheint das Lebensgefühl der Akteure manipuliert, wird eine Empathielosigkeit verordnet, die sich in der Starre der Gesichter und Gesten ausdrückt. Wo immer sie im Zuge der mehrstündigen Performance im Pavillon auftauchen, demonstrieren die Akteure eine in ihrer Schwere- und Lautlosigkeit perfide und hybride Unnahbarkeit, wie wir sie realiter in unserer aktuellen Alltagskultur zunehmend erleben können. Es ist, als stünde zwischen ihnen und den Biennale-Besuchern eine emotionale Wand aus kaltem Glas: Sie werden zum leibhaftigen Abbild dieses neuen inhumanen gläsernen Mikrokosmos.
HANS ULRICH FRANCK, SEXTUS TARQUINIUS KÖPF MOHNBLUMEN
Um 1590/95 in Kaufbeuren geboren, war Hans Ulrich Franck seit 1637 als Maler, Zeichner und Radierer in Augsburg tätig; dort starb er 1675. Bekannt ist Franck heute vor allem durch 25 bildstarke Radierungen über die Greuel des Dreißigjährigen Krieges, die Leid und Schrecken, Plünderung und Mord rigoros ins Bild setzen. Rund vierzig Zeichnungen orientieren sich in einer gleichsam neomanieristischen Diktion deutlich an Johann Heinrich Schönfeld (1609–1684), mit dem Franck befreundet war. Charakteristisch sind etwa schlank gewachsene Figuren in prätentiöser Haltung oder im Wind strähnig-zerzauste, züngelnde Haarpracht.
Das neu aufgetauchte Blatt beschäftigt sich mit einem selten dargestellten Thema, das in Livius’ ›Ab urbe condita‹, der Chronik Roms, überliefert ist. Sextus Tarquinius, der letzte König vor der Republik Rom, belagert lange ohne Erfolg die nahe gelegene Stadt Gabii. Er greift zu einer List und schickt seinen Sohn Sextus zu den Eingeschlossenen, um sich als vermeintlicher Überläufer und Feind seines Vaters auszugeben. Sextus gewinnt schnell das Vertrauen der Gabier, wird gar zu deren Heerführer gewählt. Um weitere Instruktionen seines Vaters einzuholen, schickt er ihm heimlich einen Boten. Statt mit diesem zu sprechen, schlägt Sextus Tarquinius wortlos die Köpfe am Wegrand stehender, hoher Mohnblüten ab. Der Sohn versteht die stumme Botschaft: Durch Intrige und Mord beseitigt er nach und nach die politische und militärische Führung der Stadt. Derart ihrer Elite beraubt und durch Geschenke gewogen gemacht, entschließen sich die Bürger, Gabii kampflos den Römern zu überlassen.
Franck hat mehrfach für Augsburger Goldschmiede gearbeitet.

Auch hier mag die stimmig in ein Oval komponierte Zeichnung der Entwurf für einen in Silber getriebenen Schalenboden sein (eine Gattung, von der sich – von neuem Zeitgeschmack rasch überholt und geschwind eingeschmolzen – nicht allzu viele Beispiele erhalten haben). In distinguierter Gesellschaft aufgetischt, dürfte das Prunkgeschirr die politische Tugend strategisch durchdachter Konfliktlösung angemahnt haben – stimmte das Ergebnis, war das angewandte Mittel intriganter Täuschung immer schon akzeptiert.
LOS CARPINTEROS, ESPUMA CÚBICA CUATRO
Die zweite Phase des deutschen Expressionismus mit seinen Zukunftsvisionen materialisierte sich in der Architektur zuerst im sogenannten Backsteinexpressionismus. Beeindruckende Beispiele hierfür sind das Chilehaus in Hamburg, 1922/24 von Fritz Höger, das Revolutionsdenkmal in Berlin, 1926 von Mies van der Rohe, und das Haus Atlantis in Bremen, 1930/31 von Bernhard Hoetger – visionäre Ziegelstein-Architekturen für eine neue Gesellschaft aus einem leicht verfügbaren und zu bearbeitenden Material, dessen Geschichte weit vor die deutsche Backsteingotik zurückreicht.
Genau an diesem Punkt setzt das großformatige zweiteilige Aquarell Espuma Cúbica cuatro, 2016, des in Madrid arbeitenden kubanischen Künstlerduos Los Carpinteros an. Beeindruckend ist nicht allein die Größe des Motivs, sondern auch, dass diese aquarellierte architektonische Vision trotz der wuchtigen Masse schwerelos im grenzenlosen Nichts wie eine Fata Morgana zu schweben scheint und damit par excellence die Idee eines Traumgebildes befördert.
Das Diptychon wurde genauso wie die dazugehörigen Modellarchitekturen aus Ziegelstein für eine Einzelausstellung in der Berliner Galerie KOW geschaffen. Das international bekannte und renommierte Künstlerduo greift hier wie auch in anderen Ausstellungsprojekten auf eine lokale Tradition zurück und bindet das Werk in einen größeren kulturellen Kontext ein. Der Ziegel ist bei ihnen nicht mehr nur das Material der deutschen Gotik und der Moderne zwischen den Weltkriegen, vielmehr betrachten sie ihn als einen Gesandten einer kulturellen Errungenschaft, die sich weltweit durch alle zukunftsorientierten Kulturen seit der Jungsteinzeit zieht. Seitdem die Menschen sesshaft geworden sind, wurde Ziegel für den Haus- und Städtebau verwendet – ein kultureller Quantensprung in der Entwicklung erster Hochkulturen. Eine Quintessenz, die das Aquarell wie ein plakatives Manifest erscheinen lässt.

BRIAN OʼDOHERTY, DUCHAMP BOXED
Die in Tinte gesetzte Linie des Objekts ›Duchamp boxed‹ bewahrt nichts weniger als das Portrait Marcel Duchamps auf. Eine abstrakte Vorstellung, deren unverschämte Direktheit an Lebendigkeit gewinnt, wenn man bedenkt, dass das Portrait nach dem Leben gezeichnet wurde, hält die schwarze Linie doch als Teil einer kardiographischen Aufzeichnung einzig Marcel Duchamps Herzschlag fest und bildet damit den Kern der menschlichen Existenz ab. Mit Blick auf Duchamps Kunstverständnis seiner Ready-mades ließe sich daraus folgern: »Disegno – Ich zeichne, also bin ich«, als existentielle zeichnerische Selbstbehauptung des Individuums. Durch seine Unauffälligkeit hätte es der kardiografischen Zeichenrolle wie den frühen Prototypen der Ready-mades ergehen können, die als Artefakte unerkannt und nicht erhalten blieben, wäre sie nicht vorausschauend von Brian OʼDoherty in die signalfarbende Schachtel gebettet worden.
Marcel Duchamp selbst hätte sich mit diesem Portrait hinters Licht geführt fühlen müssen, hatte doch der Arzt, Kunsttheoretiker und Künstler Brian O’Doherty alias Patrick Ireland seinen Künstlerfreund vor einem gemütlichen Abendessen im Kreis von Freunden am 4. April 1966 mit dieser Aktion überrascht. Stattdessen antwortete Duchamp, schlagfertig wie er war, nach dieser ungewöhnlichen Portraitsitzung: »[Thank you] from the bottom of my heart« und fügte zweideutig fragend hinzu: »How am I?«
O’Doherty, der wenig später mit seinem epochalen Buch ›Inside the White Cube‹, 1976 in der Kunstwelt für Aufruhr sorgen sollte, radikalisiert sein erstes 1966 geschaffenes Portrait mit diesem zwei Jahre später entstandenen Objekt ›Duchamp boxed‹, stellt es doch zugleich eine Apotheose auf Duchamps Konzept des Ready-mades dar – möglicherweise als unmittelbare Reaktion auf Duchamps Tod im gleichen Jahr. Der von einer Maschine festgehaltene Herzschlag, dessen zeichnerischer Niederschlag de facto in seiner augenblicklichen Authentizität keine Vergangenheit und keine Zukunft kennt, schafft nachgerade eine moderne in einer Schachtel eingebettete Effigie, die mit ›Duchamps boxed‹ auch in Abwesenheit den Avantgardisten leibhaftig gegenwärtig hält.


HANS VON MARÉES, STUDIE ZU "HESPERIDEN I": DIE BEIDEN MÄNNER (ZWEITE FASSUNG)
Der griechischen Mythologie nach hüteten Nymphen, die Hesperiden, in einem wunderschönen Garten einen Baum mit goldenen Äpfeln, den die Göttin Gaia – ihr Name bedeutet „Erde“ – der Göttin Hera zu ihrer Hochzeit mit Zeus wachsen ließ. Die Äpfel verliehen den Göttern ewige Jugend. Herakles gelang es durch eine List, diese Äpfel zu rauben.
Hans von Marées (1837–1887) beschäftigte sich mit diesem mythologischen Thema über Jahre intensiv und arbeitete in seiner Zeit in Rom an zwei Fassungen eines Triptychons mit diesem Thema 1879/80 und 1884/87. Die neu erworbene Zeichnung zeigt in einer ebenso spontanen wie sicher gesetzten Skizze Überlegungen zu einem der Flügelbilder der zweiten Fassung des Bildes.
Die bislang nicht publizierte Zeichnung „Ideenskizze zu ‚Pferdeführer und Nymphe‘“ steht wie ein anderes Werk aus dem Bestand der SGSM zu diesem Sujet, Inv.-Nr. 1913:51 Z, im Zusammenhang der Ideenfindung zu dem gleichnamigen Gemälde, in dem Marées keine konkrete mythologische Szene, sondern einen Moment in einem antikisierenden Arkadien zeigt. In unbefangener, natürlicher Nacktheit leben Mensch und Tier beisammen. Die weiche rote Kreide wählte der Künstler gerne, weil sie es ihm erlaubte, dem gezogenen Strich und den Schraffuren mit wenigen Wischern einen malerischen Charakter zu geben.

HANS VON MARÉES, IDEENSKIZZE ZU "PFERDEFÜHER UND NYMPHE"
Beide Zeichnungen stammen aus dem Besitz der Künstlerin Edith von Bonin (1875–1970) und wurden von deren Nachfahren der SGSM gestiftet. Edith von Bonin entschied sich für die Malerei zu einer Zeit, da Frauen der Zugang zu den Akademien verwehrt war. Sie bekam ihre Ausbildung in freien Schulen und im Selbststudium. Ihr Aufenthalt in Paris, bei dem sie die Kunst von Henri Matisse kennen und schätzen lernte, ließ sie zu einer typischen Vertreterin, der frühen Moderne werden, die sich nicht weiter um die Abstraktion oder Gegenstandslosigkeit kümmerte. Ihre Bekanntschaft mit dem Dichter Rainer Maria Rilke brachte sie auch in Kontakt mit dem Kunstschriftsteller Julius Meier-Graefe, der ein erstes Verzeichnis der Werke von Hans von Marées erstellte. Über ihn dürfte sie die beiden Zeichnungen aus dem Nachlass erworben haben, die sie ihr Leben lang begleiteten, war der an einer idealen, der Antike und der Renaissance geschulten Kunst verbundene Deutsch-Römer doch ein wesensverwandter Kollege.

HONORÉ DAUMIER, LE VENTRE LÉGISLATIF
Die Lithographie zählt neben der Darstellung des Massakers in der rue Transnonain, ebenfalls aus dem April 1834 (Delteil 135, Inv.-Nr. 1964:90 D), zu den berühmtesten politischen Karikaturen von Daumier. Während das Massaker die Grausamkeit der Truppen des Königs Louis-Philippe I. (1773–1850) im Einsatz gegen Zivilisten anklagt, stellt der „Gesetzgebende Bauch“ die Regierung selbst bloß. Louis-Philippe war als sogenannter „Bürgerkönig“ aus der Revolution von 1830 hervorgegangen, errichtete jedoch schnell wieder eine straffe Monarchie mit strenger Zensur. Seinen Gefolgsleuten wurde Korruption und Hang zur Selbstbereicherung vorgeworfen. Der „Ventre législatif“ stellt diese Ansammlung arrogant-abgehobener Abgeordneter bloß, die sich ihrer Macht und ihrer Privilegien voll bewusst und von den täglichen Problemen der Bürger, die sie repräsentieren, weit entfernt sind. Der Künstler schuf für die Portraits der Abgeordneten – alle können genau benannt werden – eigens kleine Tonskulpturen als Vorlagen für seine Zeichnungen her. Sie befinden sich heute im Besitz des Musée d’Orsay in Paris.
Die Karikatur wurde in keiner Zeitschrift publiziert, sondern war als separater Druck zu erwerben. Sie zählte schon seit Daumiers Zeiten zu den begehrtesten seiner Lithographien. In der hervorragenden Daumier-Sammlung der SGSM fehlte sie bislang und konnte nun mit Hilfe der Museumsstiftung zur Förderung der Staatlichen Museen in Bayern erworben.
Beschriftung auf Blatt (recto): Aspect des bancs ministériels de la chambre improstituée de 1834. [Ansicht der regierungstreuen Bänke der prostituierten (Wortspiel mit improvisiert / konstituiert / prostituiert) Kammer von 1834.]
Beschriftung in der Druckform: u. l.: Chez Aubert, galerie véro dodat.; u. r.: L.de Becquet, rue Furstemberg,6
Publiziert von L'Association Mensuelle, Januar 1834.

Jacques de Gheyn III (Nachfolge), Allegorie auf das Schicksal der Malerei und des Malers
Die Staatliche Graphische Sammlung München konnte kürzlich eine außergewöhnliche Zeichnung erwerben. Außergewöhnlich deshalb, weil die Darstellung gleichermaßen beklemmend wie fesselnd ist und sich einer Deutung nicht leicht erschließt: Wir sehen eine junge Frau, die sich – die Leiter mag es anzeigen – selbst an einem Baum erhängt hat. Der am Strang pendelnde Körper ist gegen die Bildmitte gerückt, der Wind bauscht das Gewand, Haarsträhnen fallen vors Gesicht. Am Boden zu Füßen der Toten liegen zu einem Stillleben arrangiert Malutensilien: eine zerbrochene Palette, Pinsel und Malerstab, daneben eine aufgeschlitzte Leinwand. Darauf ist der Kopf einer Frau mit wehendem Haar zu erkennen, deren rechter Arm einen Geldbeutel in die Höhe hält.
Die Selbstmörderin – ihr weites Gewand könnte ein Malerkittel sein – ist ebenso wie der Baumstamm und der ins Bild ragende Ast mit sicherem Strich auf das Blatt gesetzt. Zwei Tinten verschiedener Tönung steigern die plastische Wirkung. Bestechend ist neben der zupackenden Strichführung des namentlich nicht bekannten Künstlers vor allem aber das ungewöhnliche Thema.


Deutung
Gedeutet wurde das Sujet als „Allegorie auf den Untergang der Malerei“. Laut Kilian Heck wirft der Zeichner einen zutiefst pessimistischen Blick auf das Wirken der Kunst in dieser Welt, der in diesem Blatt „ihr Scheitern als Heilsbringerin der Menschheit und als Kraft, einer Gesellschaft Humanität und Ethik beizubringen“ thematisiere. Vielleicht liegt die Verzweiflung der allegorisch aufzufassenden Suizidentin aber auf einer etwas profaneren Ebene: Könnte nicht der Geldbeutel, den die weibliche Figur auf der wohl in verzweifelter Tat aufgeschlitzten Leinwand emporhält, darauf hindeuten, dass die Malerei nicht zu ihrem materiellen Recht kommt, sprich der malende Künstler kein Auskommen finden kann? Das wäre eine vor allem auch im 17. Jahrhundert nahe an der alltäglichen Wirklichkeit angesiedelte Interpretation, die in Adam Elsheimers (1578–1610) berühmter Münchner Zeichnung „Der in Armut verzweifelnde Künstler“ (Abb.) nicht voraussetzungslos wäre.
2017
ISA GENZKEN, OHNE TITEL

Isa Genzkens unbetitelte Suite von sieben Siebdrucken von 1968 gehört zu den seltenen frühen graphischen Arbeiten in ihrem Werklauf. Gleichwohl die Blätter wiederholt in Ausstellungen zu sehen waren, wurden sie bisher nie zum Kauf angeboten und erst auf wiederholte Nachfrage der Staatlichen Graphischen Sammlung München offeriert. Eindeutig zählen sie zum Corpus graphischer Schlüsselwerke dieser international relevanten deutschen Künstlerin, deren großformatige Installationen in den letzten zwanzig Jahren die Grenzen der Materialästhetik fortlaufend neu abgesteckt haben.
Innerhalb der Sammlungsbestände der Graphischen Sammlung schließen die überarbeiteten Siebdrucke eine zentrale Lücke. Sie sind zuerst als eine Art »Reaktion« auf die amerikanische Kunst der 1960er und 1970er zu verstehen, die umfangreich in der Sammlung vertreten ist.
Zugleich sind sie ein Statement gegen das alles beherrschende europäische Informel – ein Reflex, der eine ganze Generation von jungen Künstlern in den späten 1960er und 1970er-Jahren umtrieb und seinen Niederschlag in neuen ästhetischen Formerfindungen fand. Schließlich nehmen die Blätter in der Ambivalenz ihrer ästhetischen Parameter vorrausschauend Tendenzen der aktuellen Gegenwartskunst vorweg.
Aus heutiger Sicht sind sie als eine epochenübergreifende Setzung zu verstehen – begründet durch ihre hohe künstlerische Qualität – klassisch und zugleich aktuell neu. Insgesamt kann man der unbetitelten Suite von überarbeiteten Siebdrucken aus dem Jahr 1968 den Status eines singulären graphischen Hauptwerks der Künstlerin zusprechen. In ihrer Frische und Radikalität erscheinen sie so gegenwärtig wie die jüngsten Bilder, Reliefs und Installationen von Isa Genzken.
HERMANN GLÖCKNER


Rot über Schwarz und Blau
1930 entschied sich Glöckner, etwas Neues zu beginnen, um die konstruktiven, geometrischen Grundlagen seiner gegenständlichen Malerei zu untersuchen und ihre elementaren, komplexen Zusammenhänge zu finden. Dieser Ansatz führte zu einer umfangreichen, unikalen Werkgruppe, in der Glöckner fortan rein konstruktiv-abstrakt arbeitete. Die Tafel Rot über Schwarz und Blau, um 1932, zählt zu den frühen Hauptwerken aus Hermann Glöckners sogenanntem Tafelwerk. Mit ihm verwirklichte er seine Idee einer offenen Systematik zu Material- und Formfragen, ohne dass seine Analysen in Gesetzmäßigkeiten erstarren.
Innerhalb der Gruppe der frühen Tafeln, die von 1932–1935 entstanden ist, nimmt Rot über Schwarz und Blau mit einigen wenigen weiteren Tafeln aus dieser Zeit eine Sonderstellung ein, da Hermann Glöckner hier explizit eine künstlerische Idee gültig ausformuliert und sie in keiner der nachfolgenden Tafeln mehr aufgreift. Demgegenüber steht eine größere Gruppe von Tafeln, die andere Themen mehrfach variiert.
Rot über Schwarz und Blau zeichnet sich durch eine extrem intensive Durcharbeitung der beidseitigen Motive aus, die einander in wechselseitiger Bezugnahme konzeptuell durchdringen. Damals neu und geradezu spektakulär war es, dass Glöckner die Tafeln als körperhafte Objekte auffasste, in denen er die Malerei ins Dreidimensionale transformierte. »Vorder«- und »Rückseite«, die heute treffender im Sinne einer Gleichwertigkeit als A- und B-Seite verstanden werden, nehmen von Tafel zu Tafel vielfach aufeinander Bezug, sind zum Teil auch als Gegenentwürfe gedacht und eröffnen der plastischen Tafel eine zusätzliche Bedeutungsdimension. Die Neuerwerbung steht für dieses künstlerische Konzept paradigmatisch.
Noch immer gilt es, das Tafelwerk Hermann Glöckners zu entdecken. Zu seinen Lebzeiten sind nur wenige bedeutende Tafeln durch Vermittlung des Künstlers an einzelne deutsche und osteuropäische Museen verkauft worden, so dass die offene Serie bis zu seinem Tod annähernd komplett in seinem Besitz blieb. Umso glücklicher ist der Umstand zu bewerten, dass die frühe Haupt-Tafel Rot über Schwarz und Blau zu diesem Zeitpunkt für die Graphische Sammlung gesichert werden konnte.
Rechtwinklige Durchdringung: Zeichen F auf Schwarz, doppelseitig gearbeitete Tafel (Geburtstagstafel für Frieda Glöckner)
Die Tafeln Rechtwinklige Durchdringung: Zeichen F auf Schwarz sowie Rot über Schwarz und Blau, beide um 1932, zählen zu den Höhepunkten aus Glöckners Tafelwerk der frühen Jahre. Das Tafelwerk umfasst bis 1945 nach Christian Dittrichs Werkverzeichnis 154 Nummern und wächst zwischen 1945 und 1987 auf insgesamt 271 Eintragungen an.
Rechtwinklige Durchdringung: Zeichen F auf Schwarz zeichnet sich wie auch die oben genannte weitere Tafel durch eine intensive Durcharbeitung der beidseitigen Motive aus, die einander in wechselseitiger Bezugnahme konzeptuell durchdringen. Die intendierte Zusammengehörigkeit der beiden Tafelseiten, ihre für das Verständnis sogar notwendige Zusammenschau, ist bei der Tafel Rechtwinkelige Durchdringung: Zeichen F auf Schwarz besonders offensichtlich. Über diese formale Bedeutungsebene hinausgehend bringt die Verwendung der Monogramme »F« auf der A-Seite und »HG« auf der B-Seite eine sehr persönliche Komponente mit ein. Man kommt nicht umhin, diese Tafel als die vielleicht intimste des Werkkomplexes zu benennen: Vom Künstler selbst als ›Geburtstagstafel für Frieda‹ bezeichnet, nimmt sie direkten Bezug auf Hermann Glöckners Gattin und ist zudem ein Bekenntnis der engen Beziehung und Verbundenheit der Ehepartner.
Insbesondere die frühen Tafeln geben einen ästhetischen und konzeptuellen Schlüssel zu Glöckners späterem künstlerischem Gesamtwerk an die Hand und stehen im Besonderen für die hohe künstlerische Qualität einer programmatischen Variante innerhalb des deutschen Konstruktivismus zwischen den beiden Weltkriegen.
Zweifellos steht Glöckners Tafelwerk in seinem Rang der 1963 in Amerika publizierten ›Interaction of Colors‹ des vormaligen Bauhaus-Meisters Josef Albers in nichts nach. Obwohl es bereits Jahrzehnte vor Albers’ Untersuchung geschaffen wurde, ist seine Kenntnisnahme, Bewertung und Bedeutung im Kontext der Klassischen Moderne durch zwei deutsche Diktaturen verhindert worden und steht bis heute aus.
MAX BECKMANN, Selbstbildnis sitzend, mit gefalteten Händen, verso: Selbstbildnis
Kann man dem Augenschein trauen und im Selbstbildnis sitzend, mit gefalteten Händen einzig einen übernächtigten Künstler sehen, der in sich zusammengesunken mühsam versucht, sich wach zu halten? Oder weisen die wenigen spröden Tuschfederstriche in diesem Selbstportrait aus dem Jahr 1917 über eine nüchterne Bestandsaufnahme des Sichtbaren hinaus, vielmehr auf eine Introspektion Max Beckmanns? Es ist, als drängten sich für die Verweildauer eines Augenaufschlags aus den Abgründen seiner Nachtgedanken Bilder vor das innere Auge, die einen tiefen Weltschmerz entfesseln. Das würde erklären, warum den Gesichtszügen in diesem Moment das Menschliche entgleitet und sie im Schwanken zwischen äußerer Weltverachtung und innerer Zerrissenheit zu einer chimärenhaften Grimasse erstarren. Das Innerste kehrt sich nach außen, wird sichtbar und »der Mensch dem Menschen das Fremdeste« (Richard Wisser).
In keiner zweiten Zeichnung aus der Zeit des Ersten Weltkriegs beschreibt Beckmann seine Kriegserlebnisse und deren posttraumatische Folgen so radikal wie hier. Sicher ist, dass Max Beckmann in diesem Meisterblatt en détail mit graphischen Kürzeln von ergreifender Bestimmtheit seine subkutanen emotionalen Erschütterungen in den Oberflächen der Gesichtslandschaft zutage fördert.
Minutiös arbeitet der Zeichner Beckmann auf den beiden Seiten eines Blattes seine Verfasstheit in zwei Portraitvarianten heraus und spitzt sie zu. Bei der signierten querformatigen Kopfstudie legt er den Fokus auf die Augenpartie. Im Zusammenspiel zwischen dem rechten halbwachen Auge und dem gebrochenen Lidschlag des linken verharrt der richtungslose, in sich gekehrte Blick im Wachschlaf. In der hochformatigen Figurenstudie dagegen streicht Beckmann eine andere Verfasstheit heraus. Hier suggeriert der Blick des Künstlers in der Zusammenschau mit den im Strich brüchigen Augenbrauen sowie den durch scharfe Linien gefurchten Schlagschatten auf der linken Wange und nicht zuletzt dem stark abfallenden schrundigen Lippenbogen eine von tiefem Misstrauen geprägte Wachsamkeit. Sie erscheint durch das lauernde Sich-zurücklehnen und die im Schoß gefalteten, um Haltung ringenden Hände nur umso gegenwärtiger. Und doch wirkt der vorgestellte Mensch trotz der Anspannung in seinem mit wenigen Linien umrissenen übergroßen Mantel geradezu verloren. Selbst die übereinandergelegten Beine schließen sich zu keinem Halt gebenden, festen Sitzmotiv zusammen. Es scheint, als habe der Mensch und Künstler Max Beckmann in dieser knappen Skizze auch seine innere Standfestigkeit verloren, was ihn bis zur Untätigkeit lähmt.

FRANZ ERHARD WALTHER, SONATE
SONATE gehört zu einer kleinen Gruppe von 64 erhaltenen Wortbildern, die Franz Erhard Walther zwischen 1957/58 als Student an der Werkkunstschule in Offenbach geschaffen hat. Lange Zeit vermisst, wurden sie erst nach intensiven Recherchen 1994 wiederentdeckt und stellen seitdem ein wichtiges Bindeglied zwischen seinen frühen zeichnerischen Untersuchungen zur Frage der Bildhaftigkeit und seinem späteren epochalen ›1. Werksatz‹ dar, welcher erst auf der Grundlage einer performativen Aneignung existiert und den Betrachter zum Akteur macht, ohne den das Kunstwerk nicht existiert.
Zeitlich wesentlich früher entstanden, stehen die Wortbilder Franz Erhard Walthers als Monumente künstlerischer Äußerung im Raum – noch bevor Minimal- und Concept Art Künstler sich »Sprache« als Ausgangspunkt für künstlerisch autonome Werke zu Nutze machten. Daneben greifen die Blätter die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung schwelende Krise zur Frage der Darstellbarkeit auf, was temporär das Verschwinden des Figürlichen in der Kunst nach sich zieht und sich in Walthers Werken dieser Zeit in einer ganz eigenen radikalen Form äußert.
Das Wortbild SONATE wird bei der Betrachtung zum synästhetischen Erlebnis. Franz Erhard Walther beschreibt es folgendermaßen: »Die ruhige breite Schrift auf ungrundiertem gutem Papier. Imagination instrumentaler Musikstücke.« Dieses Blatt ist geradezu programmatisch zu verstehen, klingt in ihm doch bereits an, was Franz Erhard Walther zukünftig künstlerisch umtreiben wird: Die Erweiterung des eingeengten Kunstbegriffs.
Welchen herausragenden Stellenwert SONATE im Kontext der internationalen Zeichenkunst einnimmt, wird mit einem Seitenblick auf die Biographie des Künstlers deutlich, die er 1972 für seinen ersten umfassenden Katalog verfasst: »Von 1957 bis 1964 Studium in Offenbach, Frankfurt und Düsseldorf. 1957 ‚Untersuchungen‘, 1958 ‚Künstler‘, 1959-60 Kunststücke in Frankfurt. 1961 in Frankfurt wegen des Versuchs der Änderung der Klassenstruktur an der Hochschule exmatrikuliert. 1962 Kunstakademie Düsseldorf (K. O. Götz). In dieser Zeit entwickelt sich das Benutzungsprinzip: Nichtbeendbarkeit des Werkes.«

2016
GERT & UWE TOBIAS

Überbordende Fantasie, subtile Leichtigkeit und humorvolle Gedankentiefe zeichnen die großformatigen Holzschnitte von Gert & Uwe Tobias aus. Das Künstlerduo zählt seit mehr als einer Dekade international zu den bekanntesten deutschen Druckgrafikern, die mit ihren Bildwelten in der Gegenwartskunst beständig für Aufsehen sorgen. Bis heute hat ihre unnachahmliche Handschrift, die in bisher nie dagewesener Form die Grenzen zwischen »high and low« in der zeitgenössischen Kunst verwischt, an Radikalität und Konsequenz nichts eingebüßt.
Auch ihre jüngste Werkgruppe ›GRISAILLE‹ hält, was der Ruf der Künstler verspricht. In ›GRISAILLE‹ entdecken Gert & Uwe Tobias die jahrhundertealte Technik der »Grau-in-Grau Malerei« neu und loten sie immer wieder anders auf unkonventionelle Weise aus.
Grau nimmt auf ganzer Linie unter den Farben eine Sonderstellung ein. Es zu beherrschen, setzt ein hohes Maß an Souveränität und die genaue Kenntnis der eigenen malerischen Mittel voraus. Es ist kein Zufall, dass die Tobiasbrüder auf dem Höhepunkt ihres subtilen Farbempfindens mit dem Mut zum Risiko sich dieser neuen Herausforderung stellen.
Die Serie ›GRISAILLE‹ bedeutet für sie zugleich ein Moment des Innehaltens im Werklauf und es wird sich zeigen, dass mit dem Rückzug der Farbe aus ihren Bildwelten motivische wie konzeptuelle Aspekte in neuer Form eins werden.
Das Zentrum ihrer Recherche in Grau bildet eine Suite großformatiger ›Fensterbilder‹, in denen die Künstler komplexe Raumdarstellungen und Perspektivwechsel im per se flächig gedachten Holzschnitt schöpferisch und geistvoll neu erproben.
Die fantastischen Bilderfindungen gewinnen im Zwielicht der im Werk der Tobiasbrüder bislang unbekannten Monochromie nicht nur an Vieldeutigkeit, sondern erschließen ein von dieser Seite her noch nicht betretenes magisches Schattenreich.
Mit der kuratorischen Idee, für die Ausstellung ›Gert & Uwe Tobias GRISAILLE‹ einen Werkkomplex eigens für die Graphische Sammlung zu schaffen, setzt unser traditionsreiches Haus sein großes Engagement für die zeitgenössische Kunst nicht nur konsequent fort, sondern beschreitet mit Verve zugleich neue, bislang kaum erkundete Wege in die künstlerische Gegenwart des 21. Jahrhunderts.

THÉODORE GÉRICAULT, LE FACTIONNAIRE SUISSE AU LOUVRE
Théodore Géricault (1791 – 1824) verursachte im Jahr 1819 mit seinem Gemälde „Das Floß der ‚Medusa‘“ auf der alljährlichen Ausstellung in Paris, dem Salon, einen politischen Skandal. Die Schilderung der Schiffskatastrophe, die 1816 über hundert Menschen das Leben gekostet hatte, stellte die tödlichen Folgen der Vetternwirtschaft unter dem 1814 wieder installierten König Ludwig XVIII. bloß. Im gleichen Jahr entstand die Lithographie, die ebenfalls vor politischem Hintergrund zu sehen ist. Der Schweizer Gardist rechts bewacht eine Passage des Louvre, die von den Pariser Bürgern genutzt wurde. Dabei kam es zu einem Konflikt mit einem Veteranen der napoleonischen Armee, der für einen kleinen Aufruhr sorgte, über den sogar die Zeitungen berichteten. Géricault zeigt den stolzen Invaliden, der mit dem Hinweis auf seine Verdienste fürs Vaterland, die mit dem Orden auf seiner Brust dokumentiert sind, den Söldner des ungeliebten Königs in die Schranken weist. Im Hintergrund, im Hof des Louvre, versammeln sich währenddessen weitere Passanten, die den Disput beobachten und weiteres Publikum heranrufen, um sich mit ihm zu solidarisieren.
Géricault (1791 – 1824) zählte zu den ersten französischen Künstlern, von denen die noch junge Drucktechnik der Lithographie genutzt wurde. Von Beginn an nutzte der Künstler die Möglichkeiten der Lithographie, eine Kreidezeichnung frei auf den Stein zu setzen, virtuos.
STUDIEN UND SKIZZEN FLORENTINER MALER DES HOCHS- UND SPÄTBAROCK
Florenz ist gleichsam Synonym für das Quattrocento, für den Humanismus und das klassische Maß. Den Florentiner Künstlern waren manieristische Steigerungen so wesensfremd wie barockes Pathos. Umso mehr entwickelte sich in Florenz eine eigene Spielart des Barock. Sie hält sich nah an die Naturbeobachtung und pflegte besonders das Porträt. In religiösen Bildern wurde auf Visionäres gern verzichtet und wurden überirdische Wunder lieber in eine Sphäre des Möglichen verlegt.
Die Staatliche Graphische Sammlung München besitzt einen respektablen Bestand an Blättern des Florentiner Frühbarock von Ludovico Cigoli und Andrea Boscoli über Cecco Braco und Jacopo Confortini bis zu Baldassare Franceschini. Im Jahr 2016 konnte dieser Werkblock durch eine Gruppe von Zeichnungen der Künstlerfamilie Dandini abgerundet und um Signifikantes erweitert werden.
Die Reihe der neu erworbenen Kopf- und Körperstudien von Cesare und Vincenzo Dandini führt die Ergründung der sichtbaren Wirklichkeit exemplarisch vor Augen.



Die Blätter Cesares sind in Rötel ausgeführt und fanden in Altarbildern für einen Jesus- oder Johannesknaben Verwendung. In den Arbeiten Vincenzos geht die Naturbeobachtung gleitend über in eine Aufbereitung der Motive für das zu malende Bild: Durch farbige Grundierung sind die Studien der Malerei angenähert und zeigen die Verwandlung von Kindern in fliegende Putti. Ottavianos schon einer späteren Epoche angehörende Skizze zu einem Engelssturz zielt im Furor der prima idea auf die Veranschaulichung der Gesamtbewegung im Bild.

Die Münchner Dandini-Gruppe stammt aus einem ursprünglich rund 5.000 Blatt umfassenden Konvolut. Es wurde im 18. Jahrhundert von einem Nachkommen der Familie dem Großherzog von Toskana angeboten, dann aber verstreut. Heute werden Teile daraus in vielen der führenden Kabinette der Welt aufbewahrt.
2014
GUSTAV KLIMT, STUDIE ZUM PORTRAIT MARGARETHE STONBOROUGH-WITTGENSTEINS
„Die Beharrlichkeit mit der die österreichische Kunst der ersten Jahrhunderthälfte im Gegenständlichen befangen ist, exponierte sie früh dem Vorwurf des Zurückgebliebenen. Die westeuropäische Perspektive, die den Prozeß der Moderne als einen Fortschritt der Kunst zur Autonomie las, fand diese eindimensional in der Emanzipation von stofflichen Resten verwirklicht.“ Zweifellos klingt in Klaus Albrecht Schröders Beobachtung eine Kritik an der Wiener Moderne an, dem das scheinbar konventionelle ganzfigurige Standesportrait der 23-jährigen Margarthe Stonborough-Wittgenstein (1882–1958) von 1905 zuwiderläuft. Das Gemälde, das im Jahr der Hochzeit der jungen Frau von den Eltern bei Gustav Klimt in Auftrag gegeben wurde, wird heute in der Münchner Neuen Pinakothek bewahrt (Inv.-Nr. 13074). Nur auf den ersten Blick entspricht die Darstellung der jungen bildschönen Margarethe aus der feinen großbürgerlichen Wiener Gesellschaft dem bon goût der untergehenden Belle Époque.
Der abgewandte, in die Ferne schweifende, unbestimmte Blick und die untätig ineinander gelegten Hände mögen den Konventionen ihres Standes noch Rechnung tragen. Allerdings hat die junge Frau das althergebrachte einengende Korsett abgestreift und zeigt sich, ganz der Reformidee des Jugendstils und dem natürlichen Körpergefühl folgend, in einem leicht fließenden Seidenkleid, das im transluziden Zartweiß den Körper umspielt. Das Accessoir eines leichten Schals gleichen Stoffes kann nach Lust und Laune über die freien Schultern gelegt werden oder von ihnen abgleiten. Klimt dekliniert hier den weiter oben zitierten Weg zur Abstraktion geradezu minutiös in der Auflösung des Körperlichen, in der immateriellen Stofflichkeit des Kleides durch. In dem Maße wie er auch die reale Umwelt in ein unfassbares ornamentales Fries im Bildhintergrund verwandelt, entlarvt er die vorgegebene großbürgerliche Eleganz einmal mehr als goldenen Käfig. „Das Ornament wirft das eigentliche erotisch-sexuelle Zwielicht, in das die Frauen ununterscheidbar eingetaucht sind, sodaß nicht mehr festzustellen ist, ob sie Objekte der fließenden Linien sind, Gefangene also, oder Subjekte, Erzeugerinnen dieses strömenden Labyrinths“, um nochmals Schröder in seinem Aufsatz „Der Welt nicht blind: Passagen zu Gustav Klimt und Egon Schiele“ zu zitieren. Eine großformatige Portraitskizze, die als Neuzugang 2014 in die Graphische Sammlung gelangte und die zu einer Folge von Blättern gleichen Motivs gehört, macht deutlich, welche künstlerische Wegstrecke Gustav Klimt von den vorbereitenden Skizzen bis zum endgültigen Portrait zurücklegte.
In der Münchner Zeichnung erfasst er die junge Frau in ihrer Erscheinung noch präzise: Margarethe Stonborough-Wittgenstein ist en face in der undefinierten Weite des leeren Zeichenblattes festgehalten. Hier tritt sie noch erwartungsgemäß über den Blick in Kontakt mit dem Betrachter. Auch der Schal bedeckt noch sittsam die Schultern und doch verliert sich schon der präzise Zeichenstrich im Antlitz und luftigen Kleid in Abbreviaturen und linearen Graphemen. Es scheint, als gebe schon diese Skizze eine Ahnung von der zukünftigen Selbstbestimmtheit der Portraitierten.
